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Forschungsprojekt: Soundtrack meines Lebens  
  Gleichgültig ob Lieder, Bücher oder Videospiele: Hitparaden dominieren heute die Populärkultur. Vor 60 und mehr Jahren war das anders. Wie die Erinnerung an Lieblingslieder sich gewandelt hat und auch medizinisch eingesetzt werden kann, untersucht das internationale Forschungsprojekt "My Top Ten" eines britischen Musiktherapeuten.  
Ziel ist die Erfassung "musikalischer Biografien", die für die Therapie von Demenzerkrankungen verwendet werden können. Sie sollen auf einer Website zugänglich gemacht werden.

Frühester Online-Termin dieses internationalen Vergleichs verschiedener "Soundtracks of my life" ist November 2006.
Auf den Spuren von Nick Hornby
Vor drei Jahren hat der britische Autor Nick Hornby dem "Listen-Wahn" seiner Generation ein Denkmal gesetzt. In seinem Buch "31 Songs" handelte er das Leben seines Romanhelden mit Hilfe seiner Lieblingslieder - und dazu passenden Situationen - ab.

Direkt inspiriert wurde das nun vorgestellte Forschungsprojekt "My Top Ten" zwar nicht, wie dessen Leiter David Aldridge, Mediziner an der Universität Witten/Herdecke und Co-Direktor des musiktherapeutischen Nordoff-Robbins Zentrums, gegenüber science.ORF.at meinte.

Dennoch handle es sich um ein "gutes Beispiel für das Erstellen persönlicher Ranglisten", so Aldridge, der wie Nick Hornby ursprünglich aus England stammt.
Lieblingslieder von Menschen über 60
Am Anfang, so erzählt Aldridge, stand eine weit verbreitete, aber schwierige Situation: Ein Freund wollte seiner Großmutter zum 80. Geburtstag ein Geschenk machen, wusste aber nicht, welche Musik aus ihrer Jugend sie eigentlich bevorzugt.

Aus dieser Not wurde die Tugend eines länderübergreifenden Forschungsprojekts geboren, das in Deutschland gestartet ist und mittlerweile auch England und Japan umfasst. Weitere Länder, darunter Österreich, sollen folgen. Österreichischer Projektpartner ist Gerhard Tucek, der im Waldviertel ein "Institut für Ethno-Musik-Therapie" betreibt.

Bei der internationalen Studie werden in einem ersten Schritt Menschen im Alter ab 60 Jahren nach den wichtigsten Liedern oder Musikstücken in ihrem Leben gefragt.
Japaner mögen Beatles und Rock'n Roll
Wichtig ist den Forschern dabei der "Dialog der Generationen", wie Aldridge betont. Maturanten und Maturantinnen sprechen mit Bewohnern von Altersheimen über deren musikalische Erinnerungen und sollen so auch etwas über die Vergangenheit der eigenen Kultur erfahren.

Da das Forschungsprojekt noch am Anfang steht, gebe es bisher noch nicht allzu viele konkrete Resultate. Einiges lässt sich aber jetzt schon sagen: Über 60-jährige Japaner bevorzugen z.B. besonders die Beatles und Rock'n-Roll-Lieder.

Zwar befänden sich auch einheimische Lieder im japanischen Erinnerungsgut, die populärsten wurden aber allesamt importiert.
Lieblingsstile statt Hitlisten
Generell gebe es zwei Trends: Wie auch in anderen Forschungen belegt, verbinden viele der heutigen - über 80-jährigen - Senioren Musik vor allem mit einem Gemeinschaftserlebnis. Es wurde zusammen gesungen und musiziert - zu Weihnachten, bei Hochzeiten, Geburtstagen oder anderen Festen im Freundes- und Familienkreis.

Zweiter Trend: Die Fragen nach konkreten Lieblingsliedern blieben oft unbeantwortet. "Hitlisten" gibt es in der älteren Generation eher selten - hier dominieren laut Aldridge eher "Lieblingsstile" wie Volkslieder, Schlager oder Filmmusik.
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CD mit Liedern von 1920 bis 1950
Dennoch soll im November dieses Jahres eine erste CD erscheinen, die auf den Forschungsresultaten beruht und die beliebtesten Lieder von 1920 bis 1950 in Deutschland enthält. Darunter sind: "Ausgerechnet Bananen" (1923), "Ich küsse Ihre Hand, Madame" (1929), "Kann denn Liebe Sünde sein" (1938), "Barbara, Barbara, komm mit mir nach Afrika" (1949) und "So ein Tag, so wunderschön wie heute" (1954).
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Musiktherapie bei Demenzerkrankungen
"Musik ist ein Teil lebendiger Erinnerung", fasst Aldridge den Forschungsansatz zusammen. Wer sich an bestimmte Musiktitel erinnert, verbindet damit persönliche Erlebnisse: das Knüpfen sozialer Beziehungen, Liebschaften, berufliche Wechsel oder ähnliches.

Ein Umstand, der in der Musiktherapie lange bekannt ist und genutzt wird: "Musik öffnet Türen der Erinnerung. Manche Patienten mit Erinnerungsproblemen finden über Lieder wieder den Schlüssel zu ihren Worten", umschreibt es Aldridge.

Dazu zählen Aphasie-Patienten nach Schlaganfällen, aber auch Erkrankte anderer Demenzkrankheiten wie Alzheimer oder Parkinson.
"Gedächtnis-Animation"
Die Ergebnisse der Studie sollen deshalb in die musiktherapeutische Praxis einfließen - zum Beispiel in Form von kommentierten Musiksammlungen, die sich für die therapeutische Arbeit mit Demenzerkrankten eignen.

Aber auch für geistig rege ältere Menschen könnte gezielt eingesetzte Musik als "Gedächtnis-Animation" verwendet werden, meint Aldridge.
Die Byrds und Roy Orbisosn
Die Lieblingslieder des Musiktherapeuten selbst stammen übrigens aus den 1960er Jahren: Die ersten paar Takte von "Mr. Tambourine Man" der Byrds etwa oder "All along the Watchtower" von Bob Dylan gehen Aldridge nicht mehr aus dem Sinn.

Eine ganz besondere Episode verbindet er mit "Only the lonely" von Roy Orbison. Als er 14 Jahre alt war, hätte er das Geld seiner Mutter im mittelenglischen Nuneaton eigentlich für das Mittagessen in seiner Schule ausgeben sollen.

Stattdessen investierte er es aber lieber in Zigaretten und in die Jukebox eines Cafés - Roy Orbison sorgte für den Soundtrack dieses prägenden Lebensabschnitts.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 5.9.06
->   Nordoff-Robbins Zentrum
->   Qualitative Research in Medicine, Universität Witten
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01.01.2010