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Studie: Pathologische Internet-Nutzer chatten gerne  
  Dass der übermäßige Gebrauch des Internets abhängig machen kann, wissen Suchtmediziner seit geraumer Zeit. Eine deutsche Psychologin hat nun herausgefunden, dass diese "pathologischen Internet-Nutzer" auch stärker zu psychischen Störungen neigen. 90 Prozent von ihnen sind von Angststörungen oder Depressionen betroffen - und sie halten sich mit Vorliebe in Chat-Rooms auf.  
Im deutschsprachigen Raum ist die Pilotstudie von Silvia Kratzer, Psychologin an der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg, nach eigenen Angaben die erste ihrer Art. Bislang lägen hierzu nur zwei amerikanische Untersuchungen aus den Jahren 1999 und 2000 vor.
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Die Studie "Pathologische Internetnutzung - eine Pilotstudie zum Störungsbild" von Silvia Kratzer ist bei Pabst Science Publishers erschienen (2006, 112 Seiten).
->   Pabst Science Publishers
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Mindestens 20 Stunden pro Woche online
Kratzer hat 61 Personen untersucht, die sich entweder in der "Münchner Ambulanz für Internet-Abhängige" gemeldet hatten oder über Aushänge gefunden wurden.

Als Aufnahmekriterium für die Studie galt die Angabe, mindestens 20 Stunden pro Woche für den privaten Gebrauch online sind. Die freiwilligen Probanden - annähernd gleich viele Frauen wie Männer - waren im Durchschnitt 27 Jahre alt.

Anders als bei den meisten Untersuchungen auf diesem Gebiet wurden Befragung und Test nicht online durchgeführt, sondern persönlich und mit einem standardisierten Diagnostik-Instrument.
Unterscheidung durch sechs Kriterien
Nach den Gesprächen teilte Kratzer ihre Probanden in zwei Gruppen ein - die pathologischen und die exzessiven Internet-Nutzer. Zur Unterscheidung der beiden Gruppen verwendete die Psychologin die folgenden sechs Kriterien:

1) Starkes Verlangen nach dem Internet
2) Gefühl des Kontrollverlusts über die Online-Zeit
3) Sozialer Rückzug von Familie und Freunden
4) Entzugserscheinungen, wenn kein Internet-Zugang möglich ist
5) Ernsthafte Probleme wegen des Internets im Beruf, Studium oder Freundeskreis
6) Fortsetzung des Internet-Gebrauchs, obwohl negative Folgen bereits bekannt sind

Wer mindestens fünf dieser sechs Punkte erfüllte, wurde von Kratzer als "pathologischer Internet-Nutzer" klassifiziert. Ihre Kontrollgruppe der "exzessiven Nutzer" war von maximal einem Punkt betroffen.
Angststörungen und Depressionen bei 90 Prozent
Zwar ist es auch bei den exzessiven Nutzern durchaus üblich, 30 Stunden oder mehr pro Woche für den privaten Gebrauch im Internet zu sein, aber sie entwickeln weniger "Begleiterscheinungen", was sie zur Kategorie der "Normalen" zählen lässt.

Kratzer fand einen signifikanten Unterschied, was die Häufigkeit psychischer Störungen betrifft. Während bei den 30 pathologischen Internetnutzern 27 Personen eine psychische Störung aufwiesen (90 Prozent), waren es in der 31-köpfigen Vergleichsgruppe nur sieben Personen.

Am häufigsten diagnostiziert wurden bei ihnen Angststörungen und Depressionen - auch einige Fälle von Suchtabhängigkeiten waren dabei, erzählt Kratzer im science.ORF.at-Interview.
Information vs. Kommunikation
Dazu unterschieden sich die beiden Gruppen auch in der Art der Internet-Nutzung. Während die "Exzessiven" eher zweckorientiert nach Informationen Ausschau halten, streben die "Pathologischen" nach purer Kommunikation.

93 Prozent der "Exzessiven" nutzen das Internet zum Einkaufen, zur Informationsbeschaffung oder - in geringerem Maße - zum Spielen. Und nur 66,7 Prozent der "Pathologischen".

Dafür sind über 70 Prozent der letzteren der Kommunikation in Echtzeit - in erster Linie Chats - verfallen (44 Prozent bei den "Exzessiven").
Chatten ohne Ende
Das klingt zwar nicht gerade nach sozialer Krankheit, kann es aber sein, wie Kratzer im Gespräch verrät: "Das Chatten der pathologischen Fälle kennt kein Ende, es geht immer weiter. Sie verlieren jedes Zeitgefühl, und haben nach einiger Zeit keine Freunde mehr außerhalb der Online-Welt."

Ein weiteres Kennzeichen der pathologischen Internet-Nutzer: Sie sind mit der Anonymität viel zufriedener als alle anderen - und zwar mit ihrer eigenen, aber auch ihrer Interaktionspartner.
Nicht repräsentativ, aber signifikante Koppelung
Wie Kratzer betont, ist ihre Studie nicht repräsentativ, dazu war die Stichprobe zu klein. Auch kann sie keine Auskunft über die Frage von Ursache und Wirkung geben - ob also erst die übertriebene Internet-Nutzung steht oder die psychische Störung. Dennoch hält Kratzer die gehäufte Verknüpfung der beiden Phänomene für signifikant.
Ein Praxistipp
Das Internet, so der Praxistipp der Psychologin, soll das normale "Offline-Leben" nicht beeinträchtigen, sondern ergänzen. Wer von seinem Umfeld Rückmeldungen über etwaiges asoziales Verhalten bekommt, solle einmal über seine eigene Situation nachdenken. Und im Zweifelsfalle die Hilfe von Ärzten oder Therapeuten in Anspruch nehmen.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 5.9.06
->   Homepage Silvia Kratzer
->   Münchner Ambulanz für Internet-Abhängige
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01.01.2010