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Hirn-Studie: Wachkoma-Patientin reagiert auf Sprache  
  Wachkoma-Patienten haben zwar Schlaf- und Wachphasen, zeigen aber keine äußerlichen Merkmale eines Bewusstseins und reagieren nicht auf Umwelteinflüsse. Ein britisch-belgisches Forscherteam konnte nun mittels Messungen der Hirnaktivität nachweisen, dass eine 23-jährige Wachkoma-Patientin auf gesprochene Sätze und Befehle neuronal ansprach - und zwar so, wie es "gesunde" Vergleichspersonen taten.  
Die Wissenschaftler um Adrian Owen von der MRC Cognition and Brain Sciences Unit in Cambridge schlossen daraus, dass die Patientin sich und ihre Situation bewusst wahrnimmt.
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Der Artikel "Detecting Awareness in the Vegetative State" von Adrian M. Owen et al. ist in der Fachzeitschrift "Science" (Bd. 313, S. 1402, 8. September 2006) erschienen.
->   Abstract
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Medizinische Unsicherheit, ethische Bedenken
Vor eineinhalb Jahren bewegte ein anderer Fall die Öffentlichkeit: die Wachkoma-Patientin Theresa Marie (Terri) Schiavo. 15 Jahre lag sie im Wachkoma, als sie dann im März 2005 nach Einstellung der künstlichen Ernährung verstarb.

Der Maßnahme waren umfassende medizinische und ethische Diskussionen vorangegangen, die um die Fragen kreisten, inwiefern Schiavo noch eine Art bewusster Wahrnehmung bzw. eine Chance auf Regeneration hatte.

Das Wachkoma ist eines der am wenigsten verstandenen Phänomene der modernen Medizin, schreiben die Hirnforscher um Owen. Dem international als "persistent vegetative state" (anhaltender vegetativer Zustand / PVS) bezeichneten Wachkoma gehen schwere Gehirnschädigungen voraus.
->   Apallisches Syndrom / Wachkoma - Wikipedia
Schwere Gehirnschäden
Die Patientin, die Owen und seine Kollegen untersuchten, erlitt die Gehirn-Verletzungen im Juli 2005 bei einem Verkehrsunfall. Ein schweres Schädel-Hirn-Trauma ließ sie nach einigen Tagen im Koma in ein Wachkoma fallen.

Auch fünf Monate später verblieb die 23-Jährige in dem Zustand eines Wachkomas: Bis auf abwechselnde Schlaf- und Wachphasen konnten keine Reaktionen auf die Umwelt wahrgenommen werden. Der anhaltende vegetative Zustand wurde von verschiedenen Fachärzten diagnostiziert.
Antwort auf Ebene der Neuronen
Bei der Patientin gab es weder Anzeichen für Orientierung, noch für Reaktionen auf visuelle oder auditive Reize. Doch fehlte ihr damit das Bewusstsein?

Messungen der Hirnaktivität zeichneten ein anderes Bild: Die junge Patientin war durchaus fähig, gesprochene Sätze zu verstehen und auf sie zu reagieren. Mittels Funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRI) konnten die Wissenschaftler die neuronalen Reaktionen erheben.
Automatisch oder bewusst?
Die Hirnaktivitäten, die auf gesprochene Sätze ausgelöst wurden, entsprachen denen von gesunden Vergleichspersonen: entsprechende Sprach-Areale waren aktiviert.

Doch neuronal korrekte Reaktionen auf gesprochene Sprache muss nicht unbedingt ein Beweis für ein Bewusstsein sein, so die Forscher. Lernstudien bei Schlafenden oder Narkotisierten hätten beispielsweise gezeigt, dass Teile des menschlichen Erkenntnisvermögens - inklusive Sprachwahrnehmung und semantischer Verarbeitung - auch ohne Bewusstsein ablaufen können.
Aufgabe "beantwortet"
 
Bild: A. Owen et al. / Science

Drei 'gesunde' Versuchsteilnehmer zeigten erhöhte Aktivität in der motorischen Gehirnregion, als sie gebeten wurden, sich Tennis spielend vorzustellen. Bei der PVS-Patientin wurde die gleiche Aktivierung beobachtet.

Daher gaben die Forscher der Patientin zwei Vorstellungsaufgaben auf: Sie baten sie sich vorzustellen, dass sie Tennis spielt bzw. in alle Räume ihres Hauses geht.

Während der Denkaufgabe des Tennisspielens wurde das motorische Zentrum im Hirn der Patientin aktiviert, beim Durchschreiten des Hauses Hirnareale für die räumliche Verarbeitung. Wieder lagen die Hirnaktivitäten sehr nahe bei denen der gesunden Probanden, die ebenfalls die Vorstellungsaufgaben erfüllten.
Forscher: Bewusstsein vorhanden
Die Ergebnisse legen nahe, dass die Patientin über die Hirnareale "geantwortet" hat, obwohl die klinischen Kriterien, die für ein Wachkoma sprechen, erfüllt waren.

Auch die Bereitschaft, die Denkaufgaben in Zusammenarbeit mit den Forschern zu erfüllen, sei laut Owen ein Beweis, dass die Patientin durchaus bei Bewusstsein ist und sich sowie ihre Situation wahrnimmt.
Keine Verallgemeinerung möglich
In einem Begleitkommentar hält Lionel Naccache von der Cognitive Neuroimaging Unit INSERM noch nicht alle Kriterien ausreichend erfüllt, so dass man von einem Bewusstsein sprechen kann.

Beide, Naccache und Owen, betonen, dass es sehr wichtig sei, nicht von dieser Patientin auf andere Wachkoma-Patienten zu schließen. "Das ist eine so heterogene Gruppe: Sie alle haben Gehirnschädigungen unterschiedlicher Art", so Owen. Damit seien die Ergebnisse der Studie auch nur im Zusammenhang mit diesem einem Fall einzuordnen.

[science.ORF.at, 8.9.06]
->   Adrian Owen - MRC Cognition and Brain Sciences Unit, Cambridge
->   Terri Schiavo - Wikipedia
Mehr zum Thema in science.ORF.at:
->   US-Koma-Patientin: Lainzer Primar lobt Bush (22.3.05)
->   Wachkoma: Intensivere Betreuung der Patienten (21.3.02)
 
 
 
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01.01.2010