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Schüler träumen von Kleinfamilie und Berufserfolg  
  Kinder gelten seit jeher als Hoffnung auf eine andere, bessere Zukunft, ihre Träume als eine Art Wegweiser. Forscherinnen haben nun die konkreten Zukunftsträume von Schülern und Schülerinnen analysiert und sind auf sehr traditionelle Hoffnungen gestoßen. Die Jugendlichen träumen vor allem von Kleinfamilie und beruflichem Erfolg, wie der Soziologe Fritz Betz in einem Gastbeitrag berichtet.  
Kinder, die von nichts wissen?
Von Fritz Betz

Frigga Haug, Soziologin und prominente Vertreterin der Kritischen Psychologie, untersuchte 1980 mit weiteren Autorinnen aus der Frauenbewegung, welche Vorstellungen Jugendliche an Berliner Schulen zum Thema "Mein Leben an einem Tag in 20 Jahren" entwickelten.

Aus feministischer Perspektive war das Ergebnis enttäuschend: Ganz den tradierten Rollenbildern verhaftet träumten die Mädchen von der Gründung einer Familie mit Kindern, während die Burschen für sich ein abenteuerliches Leben abseits familiärer Zusammenhänge entwarfen.

Haug und die Salzburger Sozialwissenschaftlerin Ulrike Gschwandtner wiederholten die Studie in den Jahren 2002 bis 2003 mit Schülerinnen und Schülern aus 30 verschiedenen Klassen unterschiedlicher Schultypen in Deutschland und Österreich. Insgesamt untersuchten sie 473 Aufsätze von Zwölf- bis 19-jährigen, die Ergebnisse sind nun als Buch erschienen.
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Über das Buch
Frigga Haug & Ulrike Gschwandtner: Sternschnuppen. Zukunftserwartungen von Schuljugend
Hamburg, Argument Verlag, 2006
->   Argument Verlag
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Kinder als Objekte
Ungebrochen wird das Klischee vom kleinfamiliären Glück mit Mann, Frau und zwei Kindern entworfen, wobei die Kindererziehung nach wie vor als Sache der Frauen betrachtet wird.

Kinder erscheinen zumeist als Objekte des Besitzes, als Beiwerk, kaum als Subjekte in lebendigen Beziehungen: Sie werden geweckt, bekommen Frühstück, werden zur Schule gebracht.

Ihre zukünftigen Partner nennen die Mädchen bevorzugt "Schatz" oder "Bärchen". Fast alle leben in gesichertem Wohlstand, sind erfolgreich, anerkannt, geliebt, vernünftig und strebsam.
Verdünnte Reproduktionen medialer Vorbilder
Bärchen verrichtet Lohnarbeit oder entzieht sich ihren Mühen durch Anpassung an die neue gesellschaftliche Leitfigur des Unternehmers, nicht selten im Hightech-Bereich: "Ich habe eine wundervolle Frau, zwei prachtvolle Kinder und bin der Chef der größten Computerfirma der Welt", schreibt einer der Burschen.

Wie verdünnte Reproduktionen medialer Vorbilder aus Fernsehserien, der Werbung oder der Science Fiction lesen sich die Autofiktionen in vielen der Textpassagen, in die uns Gschwandtner und Haug Einsicht gewähren.
Auch Burschen träumen mittlerweile von Familie
Sie diagnostizieren bei den Beforschten ein Träumen in von der Bewusstseinsindustrie geborgten Welten, eine schablonenhafte "Fantasielosigkeit der Fantasie".

Einförmigkeit und Konservatismus scheinen bei den österreichischen Jugendlichen übrigens noch stärker ausgeprägt zu sein als bei den deutschen.

Eine grundlegend neue Entwicklung hat allerdings im letzten Vierteljahrhundert stattgefunden: "Die Familie hat die Burschen eingeholt", schreiben die Autorinnen, denn sie spielt nun auch in den Zukunftsentwürfen der männlichen Jugendlichen eine tragende Rolle.
Autorinnen sind wenig glücklich
Gschwandtner und Haug kontrastieren die Idyllen der Schulaufsätze mit den gegenwärtigen politischen Krisen, mit der strukturellen Gewalt neoliberalen Wirtschaftens und im Besonderen mit der statistisch nachgewiesenen Erosion des Modells der traditionellen Kleinfamilie.

Die Entwürfe vom individuellen Glück deuten sie aus zwei Richtungen: zum einen als unhinterfragte Übernahme von Normprofilen, zum anderen als Bollwerke kognitiver Dissonanz gegen eine zerrüttete Welt.

Weil sie selbst so wenig glücklich sind mit dem, was sie da an Glücksvorstellungen finden, fragen sich die Forscherinnen auch, ob sie den Beforschten mit einer allzu rigiden Lesart nicht unrecht täten. Das ist erfrischend ehrlich und betont ihr persönliches Engagement.
Schreiben: Entfremdung oder Selbstverwirklichung?
Ab und zu möchte man aber mit den Autorinnen streiten, wenn sie mit so viel "falschem Bewusstsein" hadern: Übersteigt die Aufgabe, das eigene Leben in 20 Jahren zu entwerfen, nicht einfach die Vorstellungskraft von 15-jährigen? Müssen sich deren Fantasien dann nicht zwangsläufig an Stereotypen orientieren?

Und gewiss bergen Schreibprozesse, wie Gschwandtner und Haug zur Begründung ihrer Methode vorausschicken, die Möglichkeit, Bewusstsein zu schärfen und individuelle Veränderungsprozesse anzuregen.

Das ist allerdings ein bildungsbürgerliches Ideal, dessen Einlösung man sich von Jugendlichen nicht ohne weiteres erwarten darf. Für viele von ihnen bedeutet die Artikulation in Hoch- und Schriftsprache Entfremdung, nicht Selbstverwirklichung.
Verschweigen als Widerstand
Gschwandtner und Haug erwarten von den Jugendlichen, dass sie "häufiger in Widerstand gehen, kurz: das 'ganz Andere' für sich wollen."

Und sie stellen fest, dass sie kaum etwas über ihre Sexualität preisgeben, außer Idealvorstellungen körperlicher Schönheit zu reproduzieren und Routinezärtlichkeiten wie den "Gutenachtkuss" - selbstverständlich zwischen Mann und Frau - zu erwähnen.

Ist aber im Fall des Schulaufsatzes das Verschweigen von Intimität nicht ein Akt des Widerstands? Schließlich wissen die Schreibenden ja, dass ihre Aufsätze von Autoritätspersonen gelesen werden, ein Umstand der es insgesamt unwahrscheinlich macht, dass in Schulen Pamphlete offener Rebellion verfasst werden.
Auch politisch: Forderung nach gutem Leben
Mit diesem Einspruch aber kann man sich dann gern dem Resümee der Autorinnen anschließen, in dem sie eine Demokratisierung der Schulen fordern.

Die Klischees vom kleinfamiliären Glück, von Aufstieg und Wohlstand in den "Sternschnuppen" kann man als Träume lesen, die im Realitätsprinzip verglühen werden.

Man kann ihnen aus einer bescheideneren Perspektive aber auch politische Kraft zugestehen, weil mit ihnen immerhin die Forderung nach einem guten Leben vorgetragen wird.

[4.10.06]
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Über den Autor
Fritz Betz ist Kultur- und Mediensoziologe und lehrt am FH-Studiengang Informationsberufe in Eisenstadt und an der Universität Wien.
->   Informationsberufe, FH Eisenstadt
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->   Frigga Haug
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Eine Version des Gastbeitrags erscheint am 4.10 auch in der Buchbeilage der Zeitschrift "Falter".
->   Falter
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01.01.2010