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Geschmack am Unendlichen: Die Romantik  
  Romantik birgt Verträumtes, Schwärmerisches, Poetisches, Phantasievolles und steht im Gegensatz zur nüchternen, trockenen Welt des Rationalen. Die Philosophisch-literarische Sommerakademie 2006 thematisierte einige der zahlreichen Facetten der Romantik - ein Seminarbericht.  
Einig waren sich die Vortragenden darüber, dass sich die philosophische und literarische Romantik einer allgemein gültigen Definition entziehe. Dem vielschichtigen Phänomen könne man nur durch Annäherungen gerecht werden - so lautete der Tenor.
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Philosophisch-literarische Sommerakademie
In diesem Jahr wurde das Seminar unter dem Titel "Geschmack am Unendlichen: Romantik" von der Evangelischen Akademie Bad Boll, einer Einrichtung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, vom 3. bis 14. September 2006 veranstaltet.
->   Evangelischen Akademie Bad Boll
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"Riss im Sein"
Mit der Romantik verbindet man häufig das Gefühl unbestimmter Sehnsucht und steht im Gegensatz zur Welt des Rationalen. Doch die Romantik war auch ein philosophisch-literarisches Programm, das sich lange vor Sigmund Freud mit der Frage nach den Grenzen der Rationalität beschäftigte.

Claus Artur Scheier, Professor für Philosophie an der Technischen Universität Braunschweig, akzentuierte die philosophische Position der Romantiker.

Sie gehen von einem Bruch, von einem "Riss im Sein" aus, der sich in der Trennung von Subjekt und Objekt artikuliert. Der Welt des Gegenständlichen, Objektiven steht das Subjekt gegenüber; der Gegensatz scheint unüberbrückbar zu sein.

So entsteht die Sehnsucht nach der Heilung der Welt, nach der Zusammenführung von Gegensätzen zu einem harmonischen Ganzen.
Blaue Blume
Das Symbol für die Sehnsucht nach dem Absoluten ist die "blaue Blume". Novalis, die mythenumrankte Gestalt der Romantik, sah darin die Suche nach der Utopie des Idealen, der Vollkommenheit und des Schönen. Die "blaue Blume" lasse sich niemals rational in Besitz nehmen, betonte Scheier, sondern könne nur erahnt, ersehnt werden.

Die Heilung des "Risses im Sein" bietet die Kunst: "Die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort", schrieb der Dichter Joseph von Eichendorff. Das Absolute öffnet sich nur dem Bereich der Kunst, der den durch die Trennung Subjekt-Objekt verloren gegangenen Bezug wieder herstellt.
Universelle Poesie
Eine besondere Rolle spielt die Poesie. Sie steht nicht im Dienste der Vernunft, sondern ist selbst eine gesteigerte, höhere Form.

August Wilhelm Schlegel beschreibt sie folgendermaßen: Es gibt "eine romantische, das heißt eigentlich moderne, nicht nach den Mustern des Altertums gebildete universelle und unvergängliche Poesie"; sie ist "das rastlose unersättliche Streben nach dem Neuen, Piquanten und Frappanten".
->   August Wilhelm von Schlegel (1767-1845) - Wikipedia
Neue Mythologie
Das Zentrum der Poesie, den "festen Halt" der Poesie, bildet für Schlegel die Mythologie, die er als produktive Konstruktion bezeichnet. Der romantische Künstler hat die Aufgabe, auf der Suche nach dem Absoluten neue künstlerische Ausdrucksweisen zu entwerfen und dabei eine "neue Mythologie" zu schaffen.

Diese "aus der innersten Tiefe des Geistes" quellende Mythologie verstand er als "Verklärung von Phantasie und Liebe", die die engen Grenzen der rationalen Aufklärungsphilosophie sprengt. Die "neue Mythologie ist dynamisch; sie soll "ewig nur werden und nie vollendet sein".

Das Ziel besteht nach Novalis (1772-1801) darin, "das Leben und die Gesellschaft poetisch zu machen".
Verzauberung der entzauberten Welt
In der "neuen Mythologie" suchte Novalis nach einer Verbindung zwischen antiker Vergangenheit, christlicher Gegenwart und zukünftiger Poesie. Er war davon überzeugt, so die in Mainz tätige Germanistin Andrea Neuhaus, dass die Poesie die Welt nach der Entzauberung durch die Aufklärung wieder verwandeln, verzaubern würde.
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Zitat von Novalis
"Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es."
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Kunst eint Natur und Geschichte
Auch Schelling sah in der Mythologie die notwendige Bedingung aller Kunst. Er unterschied zwischen der antiken Mythologie, die sich "innerhalb der Kunstwelt als organische Natur" darstellt, und der christlichen Mythologie, die sich als "Welt der Vorsehung oder der Geschichte" präsentiert. Auch diese Trennung wird in der "neuen Mythologie" aufgehoben.
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Zitat von Schelling
"Die Kunst ist deswegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist."
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Das religiöse Gefühl
Neben der Kunst ist auch das Gefühl des Religiösen ein Zugang zum Absoluten, wie der an der Humboldt Universität lehrende Theologe Wilhelm Gräb hinwies. Der Philosoph und Theologe Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, der von 1768 bis 1834 lebte, sah in der Religion ebenfalls eine Möglichkeit, "Sinn und Geschmack für das Unendliche" zu erwecken.

Er interpretierte die Religion als unmittelbares Gefühlserleben, das keine Vermittlung durch die Amtskirche bedarf. Religion galt ihm als Privatsache, kirchliche Lehrmeinungen und Dogmen spielten keine Rolle mehr.

Schleiermacher sprach von einer dynamischen Religion, die "von der Unruhe des Herzens, die keinen letzten Ruhepunkt finde", angetrieben werde. Diese Auffassung der Religion stieß und stößt bei zahlreichen Theologen auf heftigen Widerstand.
Aktualität der Religion
Diese Auffassung der Religion über das Wesen der Religion ist auch zu einem ernsthaften Anliegen der Gegenwartsphilosophie geworden. Das ist umso erstaunlicher, da speziell seit dem 19. Jahrhundert die Religion von Philosophen ("Opium des Volks" - Karl Marx) vehement verurteilt wurde.

So etwa spricht Jürgen Habermas von den "überschießenden Potenzialen der Religion". Der amerikanische Philosoph Hilary Putnam findet, dass die religiöse Dimension an zunehmend an Bedeutung gewonnen habe" und der kanadische Philosoph Charles Taylor ist sich mit Schleiermacher einig, dass die religiöse Erfahrung eine subjektive, innere Erlebnisqualität sei, die keine Vermittlung durch kirchliche Institutionen benötige.
Englische Romantik
Der in Stuttgart lehrende Anglist und Literaturwissenschaftler Norbert Lennartz befasste sich in seinem Seminar mit einigen Aspekten der englischen Romantik. Auch hier spielte die Suche nach dem Absoluten eine wesentliche Rolle.

Abgelehnt wurde vor allem die rein rationale Weltsicht, die Geometrisierung der Welt, wie sie seit Isaac Newton betrieben wurde.
William Blake
Newton war der Hauptgegner des Dichters und Malers William Blake, der von 1757 bis 1827 lebte. Blake schuf als Autodidakt eine visionäre "neue Mythologie", die sich gegen die Herrschaft der reinen Verstandeswelt wandte, die natürliche Instinkte unterdrückt und Moralsysteme installiert. Diesen tyrannischen Machthaber nennt Blake Urizen, der von Orc, dem Geist der Freiheit, herausgefordert wird.
Sozialkritik Blakes
Diesen Tyrannen macht Blake auch für das zeitgenössische soziale Elend der Massen verantwortlich, das er in seinem Gedicht "London" beschreibt:

"Wenn ich durch graue Straßen geh/ Wo grau die Themse fließt im Trüben/Sind in jed' Antlitz, das ich seh/ Nur Weh und Schwäche eingeschrieben/
"In jedem Schrei von Kind und Mann/In jeder Angst, die unbefriedet/In jeder Stimm, in jedem Bann/ Klirr'n Ketten, die der Geist geschmiedet".
Sprengt die Ketten!
Gegen die vom Geist geschmiedeten, klirrenden Ketten ("the mind-forg'd manacles") wandten sich Schriftsteller wie William Wordsworth (1770-1850), John Keats (1795-1821), Percy Bysshe Shelley (1792-1822) und George Gordon Lord Byron (1788-1824).

Sie taten dies auf unterschiedliche Weise: William Wordsworth, der sich vorerst für die Französische Revolution begeisterte, zog sich - angewidert vom Terror der Jakobiner - in ein Seengebiet (Lake District) in Nordengland zurück. Dort sang er ein Loblied auf die beseelte Natur:

"Im Hintergrund der Wellen Tanz/ doch munterer der Blumen Reigen!/ Vor Freude sprachlos war ich ganz/ in froher Runde durft' ich schweigen:/Ich schaute, schaute, kaum bedacht/ die Wohltat, die dies Schauspiel brachte."
John Keats
Für John Keats, der sich völlig vom politischen Leben fern hielt, war die Kunst das Absolute.
Im Kunstwerk wird der Stillstand der Zeit sichtbar. Der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens steht die Ewigkeit der Kunst gegenüber.

In der "Ode auf eine griechische Urne" drückt er dies so aus:
"Wenn uns das Alter fortrafft eines Tages/ Sollst du bestehn, von Leid, dem hier nichts gleicht/ Umringt, ein Freund dem Menschen, dem du sagst:/ Schönheit ist Wahrheit, Wahrheit schön - soviel / Wißt ihr auf Erden, und dies Wissen reicht".
Percy Bysshe Shelley
Percy Bysshe Shelley beschrieb in seiner "Ode an den Westwind" die Natur in ihrer Ambivalenz; einerseits als elementare, zerstörerische Kraft ("O Westwind wild, Herbsthauch, dein blindes Sein/Läßt fliehn die Blätter, die gefällt der Tod"), andererseits als Inspiration für das poetische Subjekt, die enthusiastische Gefühle auslöst (das Ich als "schmetternd prophezeiende Trompete").
Lord Byron
Lord Byron beschwört schließlich die Nachtseiten der Romantik: Melancholie, Langeweile und den Nihilismus. Die wohl bekannteste Gestalt der englischen Romantik beschreibt in seiner Verssatire "Don Juan" den Menschen als bloßes Triebwesen.

In Übereinstimmung mit dem englischen Philosophen Thomas Hobbes bezeichnet er den Menschen als Wolf, der nur mehr seinen animalischen Trieben folgt. Drastisch geschildert wird diese Einschätzung am Beispiel von hungernden Schiffbrüchigen, die nicht davor zurückschrecken, einen Mitreisenden zu verspeisen:

"Der Wundarzt hatt' anstatt sein Honorar/ Die Wahl des besten Stückes; indes der Bader/Nahm lieber, da er äußerst durstig war/ Den Trunk im vollen raschen Strom der Ader/Den Leib verteilte unter sich die Schar".

Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft, 22.9.06
Mehr zum Thema Romantik in science.ORF.at:
->   Die Romantik der Avantgarde (24.1.05)
->   Das Jahrhundert der Avantgarden (29.11.01)
 
 
 
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01.01.2010