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Mathematik: Die Last des Beweises  
  Es gibt keine endgültige und allgemeingültige Wahrheit - jeder wissenschaftlich interessierte oder arbeitende Mensch weiß das. Außer in der Mathematik, der exaktesten aller Wissenschaften: Hier gibt es Beweise. Diese sind definitiv und eindeutig - heißt es zumindest. Die Wahrheit von Aussagen, Sätze oder Theorien wird für alle Ewigkeit festgestellt. Bei den großen Beweisen der letzten Jahre sind es weltweit allerdings oft nur wenige Fachleute, die deren Korrektheit überhaupt bestätigen können.  
Ähnlich auch beim Beweis der Poincaré-Vermutung durch den russischen Mathematiker Grigori Perelman, der im Sommer mit seiner Ablehnung der Fields-Medaille für Aufsehen sorgte. Bereits 2002 hatte er über einen Zeitraum von acht Monaten die entscheidenden Punkte des Beweises in drei Etappen im Internet veröffentlicht. Inzwischen - also vier Jahre später - haben sich einige Experten positiv zu dessen Korrektheit geäußert. Hundertprozentige Sicherheit wird offensichtlich immer schwieriger.
Mathematik - die Mutter aller Wissenschaften?
Mathematik als Wissenschaft hat eine Sonderrolle und wird manchmal als die "reinste" Form des Denkens bezeichnet.

Wie in Platons Ideenlehre existieren die Theorien und Gesetze in einer anderen oder eigenen Welt, das heißt, die Ideen gibt es unabhängig von den Dingen. Aussagen gelten als absolut.

Der formale Beweis ist das Kernstück der Mathematik, auf dem jede Theorie aufbaut, obwohl sich die meisten Experten einig sind, dass es ohne ein bestimmtes Maß an Intuition und Inspiration keine kreativen Lösungen gebe.
->   Platons Ideenlehre (Wikipedia)
Logische Ableitung oder empirische Evidenz
Andere Wissenschaften verwenden Hypothesen, die empirisch überprüft oder falsifiziert werden. Das heißt die Theorien werden in der Realität getestet. Gültig sind sie, solange keine gegenteilige Evidenz vorliegt. Dadurch entsteht ein Kreislauf von vorläufigen Wahrheiten, ihrem Überprüfen, ihrem Verwerfen oder Anpassen.

Anders in der Mathematik: Das Ziel ist immer der absolute Beweis und dieser ist definitiv. Ein Beweis ist mehr als ein Argument oder eine gute Begründung. Ein so genannter strenger Beweis ist eine rein logische Ableitung von Begriffen aus Grundbegriffen oder von Sätzen aus Axiomen.
->   Axiom (Wikipedia)
Dauerhafte Gültigkeit?
Das ist auch das Faszinierende an der Mathematik, für viele die Königsdisziplin unter den Wissenschaften. Ist die Gültigkeit einzelner Sätze oder ganzer Theorien einmal bewiesen, gelten diese als absolute Wahrheit.

In der Folge bauen Theorien wie eine Pyramide aufeinander auf, verworfen wird bei allgemeiner Akzeptanz normalerweise nichts. Somit ist die Mathematik die einzige Wissenschaft, in welcher Theorien noch nach Jahrtausenden gültig sind.

Der Mathematiker Peter Michor von der Universität Wien hält dies allerdings für eine idealisierte Sicht, wie er science.ORF.at gegenüber äußert. Auch in der Mathematik könne es vorkommen, dass Fehler in Theorien manchmal erst nach Jahrhunderten entdeckt werden und diese dann angepasst werden müssen. Außerdem existiere die Mathematik nicht völlig unabhängig von der Welt und anderen Wissenschaften, vor allem ohne Physik hätten viele Entwicklungen gar nicht stattgefunden.
Spezialisierung der Mathematik
Das Theoriegebäude ist in den letzten Jahrhunderten stetig gewachsen, viele neue Subtheorien und gänzlich neue mathematische Zweige sind entstanden. Laien können dieser Spezialisierung längst nicht mehr folgen oder nur ansatzweise in die Tiefe vordringen. Aber auch für Mathematiker selbst wird ein echtes Verstehen fremder Fachbereiche zunehmend unmöglich.

Dass der Russe Grigori Perelman die Poincaré-Vermutung beweisen konnte, war nur durch jahrelange Beschäftigung mit verschiedensten Theorien und Methoden der Geometrie möglich.
Letztendlich löste er eines der sieben großen mathematischen Rätsel, auf die das amerikanische "Clay Mathematics Institute" einen Preis von einer Million Euro ausgesetzt hat.
Wer soll das noch verstehen?!
Schon bevor ein Mathematiker mit dem tatsächlichen Beweis beginnt, muss er mehrere Jahre an Arbeit investieren, um alle Hilfsmittel zu erlernen. Sämtliche Konzepte, Ideen und Subtheorien müssen verstanden und verknüpft werden.

Ähnlich wie ein Musiker muss er zuerst das komplette Handwerkszeug beherrschen, bevor das eigentliche Problemlösen beginnt - vorausgesetzt er besitzt dann noch genug jugendliche Kreativität. Wesentlich bei diesen Vorarbeiten ist, mögliche Brücken zwischen unterschiedlichen mathematischen Welten zu finden.

Hat der Mathematiker - meist erst nach vielen Jahren - einen Beweis gefunden, folgt die mühsame Periode der Überprüfung. Denn wer soll oder kann die geforderte absolute Korrektheit heute noch verifizieren, das erforderliche Verständnis teilen weltweit nur wenige. Üblich ist eine Evaluierung über "peer-reviewed" Journals. Diese haben es in der Hand, die Exaktheit und die Korrektheit von Beweisen festzustellen und zu bestätigen.
Seitenlange Elaborate
Das formale Nachvollziehen seitenlanger Elaborate scheitert oft nicht nur an der Technik und den unterschiedlichen Methoden, allein der Umfang solcher Beweise, der unter Umständen über 1.000 Seiten betragen kann, ist kaum zu bewältigen.

So hatte etwa Andrew Wiles' Beweis des Fermatschen Satzes, mit dem der englische Mathematiker 1994 weltweites Aufsehen erregte, ungefähr 200 Seiten. Zur Überprüfung der Korrektheit wurde er in sechs Teile unterteilt, und weltweit an verschiedene Referees verteilt.
->   Fermatscher Satz (Wikipedia)
Überprüfung in Gruppenarbeit
Oft sind ganze Gruppen von Wissenschaftlern monatelang mit der Untersuchung von Beweisen befasst. Die meisten Probleme benötigen das Fachwissen und die Einsicht mehrerer Experten.

Laut dem Mathematiker Rudolf Taschner liegt hier auch die Crux, denn verstehen kann den Beweis im Prinzip nur ein einzelner und nicht eine Gruppe von Menschen.

Peter Michor betont allerdings, dass dieser Gruppenprozess nicht erst heute wesentlich für den Fortschritt in der Mathematik ist. Im Rahmen von Seminaren werden Probleme gemeinsam ausgearbeitet und diskutiert. Es sei eben produktiver, wenn anstelle von einem zehn Gehirne denken.

"Beweise wie der von Perelman sind aber durchaus nachzuvollziehen", meint Michor. Im Prinzip ginge es um das Verstehen der großen Schritte, selten wird haarklein nachgerechnet. Wenn man in einem Bereich sattelfest und eingearbeitet ist, entwickelt man ein Gefühl dafür, wo die Schwierigkeiten liegen und wo es um neue Ideen geht. Wichtig sei strukturelles Denken und das Beherrschen von Standardmethoden.
Warum sich manches richtig anfühlt!
Eine entscheidende Rolle spielt auch das Gefühl für richtige oder schöne Lösungen. Ein Beweis ist ein Test der Produkte unserer Intuition. Diesen Zugang kann man aber erst bekommen, nachdem man sämtliche Grundlagen und Hilfsmittel erlernt und verstanden hat. Was oft übersehen wird: Das Verstehen eines Beweises ohne intuitive Einsicht ist eigentlich nicht möglich.

Strenge Mathematik fordert zwar, dass ein Beweis rein formal nachvollziehbar sein sollte, aber auch oder gerade bei wachsender Komplexität ist eine völlige Entkoppelung von Form und Bedeutung schwierig. Und in erster Linie sollten Beweise dazu dienen zu verstehen, warum der betreffende Satz gilt. Man zeigt, dass etwas in der Wirklichkeit funktioniert.

Wie auch der Mathematiker Rudolf Taschner meint: "Letztendlich geht es nicht um Korrektheit, sondern um Wahrheit." Ohne Bedeutung mache die Mathematik keinen Sinn. Deswegen sei er auch sehr skeptisch gegenüber Computerbeweisen, die zwar formal richtig sind, aber nicht wirklich zum Verständnis beitragen.
Mathematik als soziale Wissenschaft
Sowohl Perelman als auch Wiles haben ihre Beweise in völliger Isolation verfasst. Das entspricht eigentlich nicht den Gepflogenheiten in der modernen Mathematik. Nicht zuletzt aufgrund der wachsenden Komplexität ist das Beweisen in der Mathematik in den letzten Jahrzehnten immer mehr zu einem sozialen Prozess geworden.

So gesehen ist der Beweis Teil des mathematischen Diskurses. Seinen Status erhält ein Beweis erst, nachdem er als solcher von der Gemeinschaft akzeptiert worden ist. Und zum Finden echter Lösungen ist Kollaboration heute notwendiger denn je.

"Die Wahrscheinlichkeit hat in der Mathematik noch nicht Einzug gehalten", so Taschner. Aber echtes Verstehen und die Wahrheit sind immer weniger Menschen zugänglich.

Eva Obermüller, science.ORF.at, 29.9.06
->   Peter W. Michor - Uni Wien
->   Rudolf Taschner - math.space
->   Andrew Wiles - Wikipedia
->   Grigori Perelman - Petersburg Department of Steklov Institute of Mathematics
Mehr zum Thema in science.ORF.at:
->   Mathematiker Perelman lehnt Fields-Medaille ab (22.8.06)
->   Russischer Mathematiker verschmäht Ruhm (22.8.06)
 
 
 
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01.01.2010