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Das Wunder Auge  
  Fast alle nennenswerten Tiergruppen haben im Lauf der Naturgeschichte unabhängig voneinander Augen entwickelt. Fast könnte man sagen: Dort wo Licht ist, gibt es auch zwangsläufig Augen, die die Welt betrachten. Die Geschichte dieses Erfolgsorgans lässt sich heute - Dank molekularer Methoden - bis auf die Ebene seiner kleinsten Bauteile zurückverfolgen. Ein Rundblick.  
"In höchstem Grade absurd"
"Die Annahme, dass das Auge mit all seinen unnachahmlichen Einrichtungen ... durch die natürliche Zuchtwahl entstanden sei, erscheint, wie ich offen bekenne, in höchstem Grade als absurd." Charles Darwin war ein ehrlicher Mann.

Und so widmete er in seiner "Entstehung der Arten" ein ganzes Kapitel den Problemen, die seiner Theorie der natürlichen Selektion entgegenstanden. Eine dieser Schwierigkeiten sah Darwin durch die Existenz von "Organen äußerster Vollkommenheit und Verwicklung" gegeben, und da stand für ihn das menschliche Auge an erster Stelle.

Bei einem Organ, das aus so vielen Teilen besteht und zu so erstaunlichen Leistungen imstande ist, hatte man - zumindest noch im 19. Jahrhundert - Probleme sich vorzustellen, dass dies alles durch den simplen und noch dazu kurzsichtigen Mechanismus der natürlichen Selektion entstanden sein soll.

Aber schon Darwin vermutete: "... dem alten Sprichwort 'vox populi, vox dei' darf die Wissenschaft kein Vertrauen schenken" - sprich: die Intuitionen der Zeitgenossen dürfen in gerade diesem Fall kein Maßstab sein. Denn, so ahnte er, revolutionäre Denker sind mit ihren Ideen zu einem gewissen Grad immer einsam.
Der erste Schritt: Opsine
Heute freilich herrscht diesbezüglich weniger Skepsis, sind doch die wesentlichen Stationen in der Naturgeschichte des Auges längst bekannt: Der erste und vielleicht wichtigste Schritt zur Kunst des Sehens dürfte bereits ganz früh, noch vor der Trennung der drei Hauptgruppen des Lebens - Eukaryonten, Bakterien, Archea - stattgefunden haben.

Dieser bestand in der Erfindung lichtempfindlicher Proteine, Opsine genannt, die ursprünglich gar nicht zur Orientierung eingesetzt wurden. Sie dienten zunächst der Energiegewinnung aus Sonnenlicht - und zwar lange bevor die ersten Einzeller in Sachen Photosynthese aktiv waren.
Vom Fleck zum Becher
Die weitere Entwicklung vom Opsin zum Wirbeltierauge wurde etwa in den 1970er Jahren von Hoimar von Ditfurth popularisiert. Seine Botschaft an die Leserschaft lautete damals: Die heute noch im Tierreich verbreiteten Variationen zum Thema - Augenfleck, Gruben-, Kamera- und Linsenauge - spiegeln in dieser Reihenfolge die Naturgeschichte im Längsschnitt.

Die abgestufte Folge von einfachen zu komplexen Sinnenorganen kann man zu einer erstaunlich geschlossenen Erzählung verbinden, sofern man ihre Funktionen betrachtet. Wobei vor allem die Schwächen der jeweiligen Augentypen aufschlussreich sind.

So sind etwa Augenflecken, wie man sie bei Plattwürmern findet, in gewisser Hinsicht ein Widerspruch in sich: Sie werden am nötigsten am vorderen Körperende gebraucht, sind aber gerade dort am ehesten der Gefahr von Verletzungen ausgesetzt.

Die Lösung dieses Problems bestand darin, dass die lichtempfindlichen Zellen zusammengerückt und eingesenkt wurden. Damit erblickte - im wahrsten Sinn - das erste Becherauge das Licht der Welt.
Planlos ans Ziel
 
Bild: Science

Becheraugen haben den Vorteil, dass sie ihren Trägern nicht nur über Hell und Dunkel, sondern aufgrund ihrer Form auch über die Richtung einer Lichtquelle Auskunft geben. Bemerkenswert daran ist, dass dieser Bonus nicht antizipiert werden konnte. Er ergab sich zufällig.

Ähnliches gilt im Übrigen auch für die Entwicklung primitiver Linsen, die zunächst Lochaugen vor der Verstopfung mit Partikeln schützen sollten. Als Mittel zur Lichtbrechung wurde sie erst später optimiert.

Das ist wohl charakteristisch für den Lauf der Naturgeschichte an sich: Es existiert kein Plan anhand dessen solche Innovationen vorhergesehen werden könnten, aber in der Rückschau sieht es manchmal so aus, als gäbe es einen.

Bild oben: Einige Augentypen bei Kopffüßern, Wirbeltieren und Muscheln
Evolution im Computermodell
Der schwedische Zoologe Dan-Erik Nilsson hat die Geschichte des Lichtsinns 1994 in ein quantitatives Modell übersetzt. Ziel dieser Übung war abzuschätzen, in welcher Zeit so eine Entwicklung realistischer Weise vor sich gehen konnte (PRS: Biological Sciences, Bd. 256, S. 53).

Das Ergebnis: Im Modell brauchte es gerade mal 2.000 Entwicklungsschritte bzw. 360.000 Generationen, um die Evolution vom Pigmentfleck zum Linsenauge nachzuvollziehen. Nimmt man beispielsweise eine Generationsdauer von einem Jahr an, dann gab es seit der Entstehung des Lebens genug Zeit, um komplexe Augen, wie sie bei Wirbel- oder einigen Weichtieren vorhanden sind, zu bilden.

Im Prinzip ginge sich auch locker eine mehrfache Erfindung der verschiedenen Augentypen aus, folgerte Nilsson in seiner Arbeit - und das war vermutlich auch der Fall. Der Wiener Zoologe Luitfried Salvini-Plawen und der Altmeister der Evolutionsbiologie, Ernst Mayr, kamen nämlich in einer Studie aus dem Jahr 1977 zu dem Schluss, dass Augen im Tierreich rund 40 Mal unabhängig entstanden sind.
->   Video: Evolution of the eye
Der Masterregulator
Russell D. Fernald von der Stanford University hat in einem aktuellen Überblicksartikel in der Fachzeitschrift "Science" (Bd. 313, S. 1914) nun die wichtigsten molekularen Schlüsselspieler der Augenevolution aufgelistet. Einer davon ist etwa das an der Fruchtfliege entdeckte Gen "eyeless".

Schaltet man es in Geweben an, in denen es normalerweise nicht aktiv ist - etwa den Antennen -, entsteht eine echte Monstermutante: das Insekt bildet auch dort Augen aus. Daraus schlossen manche Forscher, dass "eyeless" so etwas wie ein Hauptschalter für die Entwicklung von Augen ist.

Diese Interpretation ist allerdings mit Vorsicht zu genießen. Denn das Gen ist seinerseits von einem geeigneten genetischen Hintergrund abhängig, genau so, wie etwa ein Lichtschalter in der Wand ohne entsprechenden Stromkreis gar nichts bewirkt.
Konventionen der Benennung
Richard Dawkins hat sich in einem Essay über "eyeless" einmal dafür entschuldigt, dass das Gen zwar eben "augenlos" heißt, aber in Wirklichkeit das Gegenteil tut, nämlich für die Bildung von Augen sorgt. Der Grund dafür ist relativ einfach: Meistens findet man die Funktion von Genen erst durch ihre Abwesenheit heraus.

Und genau so war es auch in diesem Fall: Für Fruchtfliegen, denen man dieses Gen aus dem Erbgut entfernt, gibt es kein Hell und Dunkel - sie kommen ohne Augen zur Welt.
Lichtbrechung über Umwege
Eine andere Gruppe wichtiger Moleküle mit gleichfalls verwirrendem Namen sind die Crystalline, die als wasserlösliche, transparente Proteine eigentlich nichts mit Kristallen zu tun haben. Vermutlich bekamen sie den Namen aufgrund ihres hohen Brechungsindex, der sie zum idealen Bestandteil für den Bau von Augenlinsen macht.

Untersucht man, wie die Crystalline zu dieser Rolle kamen, wiederholt sich das Spiel der nachträglichen Umwidmung, das man bereits aus der vergleichenden Morphologie kennt. Krokodile und einige Vögel verwendeten sie ursprünglich für die enzymatische Herstellung von Milchsäure, bei anderen Wirbeltieren dienten sie als Schutzsubstanzen gegen Zellstress. Gemeinsam ist den verschiedenen Varianten der Crystalline jedenfalls, dass sie sich offensichtlich bestens zum Sehen verwenden lassen.

Das zeigt: Die Natur ist sparsam. Sie spannt bereits vorhandene Bauteile ständig für neuartige Zwecke ein und eröffnet so neue Entwicklungspfade. Der US-Biologe Rudolf Raff bezeichnete das einmal als "Kooptierung der Moleküle". Noch treffender aber ist ein Satz, den der Nobelpreisträger Francois Jacob prägte: "Evolution is a tinkerer" - die Evolution arbeitet nicht wie ein Ingenieur, sondern wie ein Bastler.

Robert Czepel, science.ORF.at, 2.10.06
->   Auge - Wikipedia
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01.01.2010