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"Sein und Schein": 70. Todestag von Luigi Pirandello  
  Der Literaturnobelpreisträger Luigi Pirandello zählt zu den Klassikern der Moderne. Am 10. Dezember ist der 70. Todestag des italienischen Schriftstellers, dessen Werk sich mit dem "Sein und Schein" der menschlichen Existenz befasste.  
Pirandello demaskierte die Verlogenheit der gesellschaftlichen Konventionen und berief sich auf die Einsamkeit des Individuums.
Mensch als Spielball der Triebe
Bild: RAI
Luigi Pirandello
In seinem Spätwerk ging er noch weiter und zerstörte die Vorstellung, dass der Mensch ein "animal rationale" sei. Das cartesianische "cogito ergo sum" wurde mit einem großen Gelächter abgetan.

Ähnlich wie Sigmund Freud glaubte Pirandello nicht mehr daran, dass das Ich Herr im eigenen Haus ist. Anders als Freud bezweifelte Pirandello, dass das Ich noch die Chance hat, Emotionen, Triebe und Phantasien wenigstens zügeln zu können.

Der Mensch ist der Spielball seines anarchischen Triebpotenzials; die existenzbestimmenden Faktoren sind Liebe, Eifersucht, Hass, Geiz, Neid, Langeweile und Wahnsinn.
Einsamkeit
Die Destruktion des traditionellen Subjektbegriffs bedeutet Orientierungslosigkeit, in der Folge Isolation: "Das Grübeln ist der schwarze Abgrund, bevölkert mit düsteren Phantasiegebilden, bewacht von verzweifelter Trostlosigkeit. Ein Lichtstrahl dringt niemals dorthin. (...) Wenn es dir gelingt, kein Ideal mehr zu haben, weil das Leben dir, wenn du es beobachtest, wie ein riesiges Kasperltheater erscheint, ohne Zusammenhang, dann weißt du nicht, was du tun sollst: Du bist ein Wanderer ohne Haus, ein Vogel ohne Nest."
Biografie
Geboren wurde Luigi Pirandello 1867 auf dem kleinen sizilianischen Landgut Caos in der Nähe von Agrigent als Sohn wohlhabender Eltern. Er studierte Romanische Philologie in Rom und Bonn, wo er auch promovierte.

1892 kehrte er nach Rom zurück und arbeitete als freier Schriftsteller. Er verfasste Romane, Essays und vor allem Novellen. Nach seiner Heirat wurde er zum Ordentlichen Professor an der Pädagogischen Akademie ernannt.

1916 wandte er sich dem Theater zu. Mit seinem Drama "Sechs Personen suchen einen Autor" - laut Peter Szondi "der Inbegriff des modernen Dramas" - errang Pirandello internationalen Ruhm.

Weitere Stücke wie "Heinrich IV.", "Heute abend wird aus dem Stegreif gespielt" und "Die Riesen vom Berge" festigten seinen Ruf als avantgardistischer Theaterautor. 1922 gab Pirandello seine Professorenstelle auf, um sich der Theaterproduktion ungestört widmen zu können. 1925 gründete er in Rom das Teatro d'arte. 1934 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. 1936 verstarb Pirandello in Rom.
Mitglied der faschistischen Partei
Ein dunkles Kapitel in der Biografie Pirandellos ist sein Eintritt in die Faschistische Partei 1924. In einem Brief an Mussolini bat er, in der Partei "den Platz des demütigsten und bescheidensten Mitglieds einnehmen zu dürfen".

Der Nihilist und radikale Skeptiker als Anhänger Mussolinis? - Dieses Faktum ist für die Liebhaber seiner singulären Literatur schwer erträglich.

Allerdings wurde er von den Faschisten nicht geschätzt; sie bezeichneten ihn als "ehrgeizigen Lästerer und einen Scharlatan". Der Partei blieb Pirandello - trotz wachsender Skepsis - bis zu seinem Tod verbunden.
Das kleine Ich und das große Ich
Für Pirandello spaltet sich die menschliche Person in das "kleine und große Ich." Das "kleine Ich" bezeichnet die Tätigkeit des Alltagsmenschen: Beruf, Karriere, Familie. Nach Martin Heidegger ist dies der Bereich der "Uneigentlichkeit", des "Man". Man tut alles, was den gesellschaftlichen Konventionen entspricht.

Aber bereits das "kleine Ich" ist mit ständigen Konflikten konfrontiert. So auch Pirandello, dessen Frau Antoinetta ihn mit paranoider Eifersucht verfolgte. "Eine Verrückte hat mir fünfzehn Jahre lang die Hand geführt", bekannte der Autor.
Das "große Ich" resigniert leicht
Das "große Ich" ist die Sphäre der dichterischen Inspiration; jener Bereich, der dem "kleinen Ich" unzugänglich bleibt. Das "große Ich" - "schweigsam und in seinen Gedanken verloren" - entzieht sich der trivialen Alltagswelt.

Es ist jener Bereich, den Heidegger als "Lichtung" bezeichnet, wo sich die Offenheit des Daseins jenseits gesellschaftlicher Normen zeigt.

Angesichts der Tatsache, dass ein Großteil der Menschen ausschließlich mit dem "kleinen Ich" beschäftigt ist, neigt das "große Ich" zum Rückzug, schließlich zur Isolation, zum Exil in sich selbst.
Drei Stücke: Einer, keiner, hunderttausend ...
Der Roman "Einer, keiner, hunderttausend" erschien 1926. Der Romanheld wird mit der Aussage seiner Frau konfrontiert, dass sich seine Nase nach rechts neige. Diese Bemerkung löst einen Prozess des Selbstzweifels aus, der bis zur völligen Destruktion seiner Persönlichkeit führt.

In einem endlosen Monolog werden alle Stadien dieser Selbstentfremdung vorgeführt: vom zweifelnden Blick in den Spiegel über die Hinterfragung der gesellschaftlichen Position bis zur Auflösung der Identität.

Das Fazit dieser Selbstzerstörung lautet: "Dass ich für andere nicht der gewesen war, der ich bisher für mich zu sein glaubte; (...) , dass ich, da ich mich nicht leben sehen konnte, mir selbst fremd blieb als einer, den die anderen, ein jeder auf seine Weise, sehen und erkennen konnten; aber ich nicht."
... Auf den Gipfeln der Verzweiflung ...
Dieser Roman nimmt in seiner Radikalität Samuel Beckett vorweg: "Kein Name. Keine Erinnerung heute an den Namen von gestern. Keine Erinnerung morgen an den Namen von heute."

Aber auch Motive des Existenzialismus von Jean-Paul Sartre oder der Existenzphilosophie Martin Heideggers tauchen in diesem Roman auf: Ekel, die Angst vor dem Blick des Anderen, Langeweile, Lebensüberdruss, Selbstmordgedanken, das Bewusstsein der sinnlosen "Geworfenheit" in die Welt.

Der Roman "Einer, keiner, hunderttausend" ist Literatur "auf den Gipfeln der Verzweiflung" (Emile Cioran).
... Sechs Personen suchen einen Autor
Dieses Drama, das bei der Premiere 1921 in Rom einen Skandal auslöste, brachte Pirandello internationale Anerkennung ein. Die Handlung beginnt mit einer Probe einiger Schauspieler, die vom Auftreten einer sechsköpfigen Familie unterbrochen wird.

Die völlig konträren Personen, die unter ihrer Lebensgeschichte leiden, verlangen vom Theaterdirektor, dass sie ihr "schmerzliches Drama" auf der Bühne darstellen und zu Ende spielen wollen. Sie behaupten, zwar von einem Autor erschaffen worden zu sein; der Autor aber habe vergessen, sie zu vollenden.

In einem turbulenten, chaotischen Spiel, "in dem sich alles bewegt", kommt es zu einem undurchschaubaren Verwirrspiel: die Lebensgeschichten der Personen oszillieren zwischen Erinnerungen, Anklagen, Wünschen, und Träumen.

"Ohne es zu wollen, drückt jeder von ihnen in höchster Erregung, um sich gegen die Anschuldigungen des anderen zu verteidigen, als sein tiefstes Leid und seinen Kummer das aus, was so viele Jahre die Not meines Geistes gewesen ist: die Unmöglichkeit, sich gegenseitig zu verstehen."
Das Testament von Pirandello
"Man übergehe meinen Tod mit Stillschweigen. Keine Mitteilungen. Man hülle mich nackt in ein Leinentuch. Keine Blumen, keine Kerzen, Wagen letzter Klasse - wie für die Armen. Nackt und sonst gar nichts."

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft, 8.12.06
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Werke von Pirandello
Novellen (247)
Romane: Die Aufzeichnungen des Kameramanns Serafino Gubbio/ Mattia Pascal/Die Alten und die Jungen/ Der Mann seiner Frau/Die Ausgestoßene/ Einer, keiner, hunderttausend
Essay: Über den Humor
Theaterstücke: Sechs Personen suchen einen Autor/ So ist es (wie es Ihnen so scheint)/ Der Mensch, das Tier und die Tugend/ Der Mann mit der Blume im Mund/Heinrich IV/Die Riesen vom Berge
Im Buchhandel lieferbare Werke: Sechs Personen suchen einen Autor (Reclam 8765), Das dritte Geschlecht (Wagenbach), Die Ausgestoßene (Wagenbach), Einer nach dem anderen (Wagenbach), Feuer ans Stroh (Wagenbach), Mattia Pascal (Wagenbach)
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->   Deutsches Pirandello-Zentrum
->   Pirandello-Website der RAI
 
 
 
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01.01.2010