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Aufgeladen: Literatur und Elektrizität um 1800  
  Die großen Autoren der Romantik um 1800 wie E.T.A. Hoffmann oder Novalis ließen sich von den technischen Entdeckungen ihrer Zeit beeinflussen: Wenn es um die Beschreibung der Liebe ging, beflügelten besonders die Phänomene der Elektrizität ihre Phantasie. Zwischenmenschliche Beziehungen in Analogie zur Physik als Auf- und Entladungen beschreibt der Germanist Rupert Gaderer vom IFK in Wien in einem Gastbeitrag.  
Elektrizität - Poetisierte Naturwissenschaft um 1800

Von Rupert Gaderer

Albertine und Edmund, Giulletta und Erasmus, Serpentina und Anselmus, Donna Anna und reisender Enthusiast, Hermenegilda und Obrist Graf Xaver von R., Prinzessin Hedwiga und Kappelmeister Kreisler, Angelika und Theodor geben "elektrische Schläge" ab oder werden von ihnen erfasst.

E.T.A. Hoffmanns (1776-1822) innovative Inszenierungen jener elektrisierenden bzw. elektrisierten Körper von Liebenden orientieren sich an der Elektrizitätslehre des 18. und frühen 19. Jahrhunderts.

Die fiktiven elektrisierenden Körper der Frauen in Hoffmanns Erzählungen sind personifizierte Quellen elektrischer Emissionen. Sie geben Elektrizität ab, wenn sie von Männern berührt werden. Frauen elektrisieren aktiv verausgabend, Männer indessen werden kontinuierlich passiv elektrisiert.
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Vortrag am IFK
Rupert Gaderer hält am Montag, den 15. Jänner 2007 um 18.00 c.t. am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen Vortrag mit dem Titel "Elektrizität. Poetisierte Naturwissenschaft um 1800".
Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   IFK
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Der elektrische Kuss: Die Venus electrificata

Georg Mathias Bose, Professor der Physik an der Akademie zu Wittenberg, verband eine Frau mit einer Elektrisiermaschine und lud sie elektrostatisch auf. Danach gestattete die Venus electrificata (Abb.) einem (meist nichts ahnenden) Mann einen Kuss.

Kurz bevor sich die Lippen der beiden berührten, spannte sich ein elektrischer Funke von Lippenpaar zu Lippenpaar, wobei bei der intimen Körperberührung beide einen zumeist leichten elektrischen Schlag abbekamen.

Dieses kuriose Demonstrationsexperiment der energetischen Auf- und Entladung des weiblichen und männlichen Körpers wurde weit über das 18. Jahrhundert hinaus zu einem bestimmenden erotischen Sinnbild der emotionalen Auf- und Entladung.
Prinzessin Hedwiga als "Elektro-Apparat"
Protagonistinnen können aber auch personifizierte elektrotechnische Apparate sein. Mit dem zufälligen körperlichen Kontakt zwischen Prinzessin Hedwiga und dem Kappelmeister Kreisler aus Hoffmanns "Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern" (1819-1821) wird von den beiden eine elektrische Menschenkette gebildet.

Hedwiga ist zudem ein anthropomorphes Bild eines der elementarsten elektrotechnischen Apparate des 18. Jahrhunderts, nämlich der "Leydner Flasche".

Durch die literarische Darstellung jener elektrischen Anordnung einer personifizierten Leidener Flasche (Hedwiga) und einem zu elektrisierendem Körper (Kreisler) wird die Liebeskonstellation der beiden literarisch inszeniert.
Leidener Flasche oder Kleistsche Flasche

Die Leidener oder Kleistsche Flasche ist neben der Reibungselektrisiermaschine, die aus einem rotierenden Glaszylinder bestand und durch ein Schwungrad angetrieben wurde (Abb.), eine der entscheidenden technischen Weiterentwicklungen auf dem Gebiet elektrischer Apparaturen zur Mitte des 18. Jahrhunderts; zeitgleich entwickelt von den Konstrukteuren Petrus (Pieter) van Musschenbroek (1692-1761) und Ewald Jürgen von Kleist (1700-1748).

Der erste Prototyp eines Kondensators funktionierte nach dem Prinzip der Auf- und Entladung, denn das Glas war Isolator, der das aufgeladene Wasser (Dielektrikum) von der Hand trennte, wobei die innere Fläche des Glases positiv, die äußere Fläche negativ geladen war.

Die gegenseitige Anziehung von Hand und Wasser brachte den Vorteil, dass eine wesentlich größere Ladung entstehen konnte, als dies noch bei einer elektrostatischen Glaskugel oder einem elektrostatischen Glasrohr der Fall gewesen war.
Liebe als elektrisches Prinzip
Um es auf einen physikalischen Nenner zu bringen: Jenes Liebeskonzept, das Hoffmann immer wieder aufruft, orientiert sich an der elektrischen Verschaltung elektrisierender und zu elektrisierender Körper sowie an dem elektrischen Prinzip der Auf- und Entladung. Die zwischenmenschlichen Beziehungen können letztlich in Analogie zur Physik als Auf- und Entladungen von Elektrizität verstanden werden.

Auffallend und neu ist, dass gerade Literaten in der Epochenschwelle um 1800 naturwissenschaftliche Debatten aus dem Bereich der Elektrizitätslehre intensiv beobachten und sie produktiv in ihre Poesie übersetzen.

Durch die produktive Wechselwirkung zwischen literarischer Ästhetik und technischem Wissen entsteht ein neuer "elektrischer Code" der Liebe. Die Veränderungsmacht einer technischen Kultur, namentlich der Elektrizität, generiert eine neuartige literarische Darstellung der Liebenden.
Physik in Literatur übersetzt
Was Autoren wie Novalis, Clemens Brentano, Achim von Arnim, Jean Paul, Heinrich von Kleist oder E.T.A. Hoffmann in ihren literarischen Inszenierungen von Liebenden unternehmen, ist die Transformation eines physikalischen Wissens über Elektrizität in ästhetisch-literarische Konzepte.

Diese Übersetzungsprozesse sind von zwei wesentlichen Sachverhalten geprägt: einerseits Naturwissenschaft, Ästhetik und Poesie miteinander zu vernetzen sowie andererseits ihre unübersehbaren Differenzen zu thematisieren.

[15.1.07]
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Über den Autor
Rupert Gaderer ist 2006/2007 IFK_Junior Fellow und arbeitet an dem Projekt "Chiaro - Scuro. E. T. A. Hoffmanns Poetisierung des Medialen zwischen aufgeklärter Wissenspoetik und obskurer Phantasmagorie".
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->   The Bakken (A Library and Museum of Electricity in Life)
->   Abstract Gaderer zum Thema (pdf-Datei)
 
 
 
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01.01.2010