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Maskeraden am Beispiel der plastischen Chirurgie  
  Maskierungen sind in verschiedenen Kulturen und Epochen vorgenommen worden. Sie stellen in sehr unterschiedlicher Weise die Person zur Debatte - oder eben gerade nicht. Die plastische Chirurgie als zeitgenössische Maskerade, bei der die Differenz der Maske zu Gesicht und Person schwer erfassbar ist, beleuchtet die Psychologin Nora Ruck, Junior Fellow am IFK, in einem Gastbeitrag.  
Das Gesicht, das nicht Ich ist

Von Nora Ruck

Ein Wiederherstellungschirurg bezeichnete kürzlich seine Kollegen auf Seiten der Schönheitschirurgie und deren Klientel als "Charakterkrüppel". Er beklagte damit einen Verlust innerer Werte, der sich in der Fixierung auf die menschliche Körperoberfläche manifestiert.

Die heutige Schönheitschirurgie erscheint somit als Ausgeburt einer ebenso oberflächlichen Konsumgesellschaft, die den Körper als Projekt begreift: beliebig bespielbares Medium für je nach Mode wechselnde Projektionen und zugleich berechenbarer Einsatz im Spiel um Marktwerte.
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Vortrag am IFK
Nora Ruck hält am Montag, den 29. Jänner 2007 um 18.00 c.t. am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen Vortrag mit dem Titel "J'est ton visage - Zeitgenössische Maskeraden am Beispiel der plastischen Chirurgie". Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien.
->   IFK
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Schönheits- und Wiederherstellungschirurgie im Krieg
Die Schönheitschirurgie ist ein - wenn auch bisweilen bekämpfter und ungeliebter - Zwilling der Wiederherstellungschirurgie.

Als ihr leiblicher Vater mag der erste Weltkrieg gelten: Soldaten kamen aus den Schützengräben oftmals mit so schweren Gesichtsentstellungen zurück, dass ihnen eine Rückkehr in ihr altes Leben schon allein aufgrund sozialer Stigmatisierung verwehrt blieb.
Das Antlitz des Krieges rekonstruieren
Die Funktion der plastischen Chirurgie war eine zweifache: Zum einen galt es, den Anblick der Überlebenden so weit erträglich zu gestalten, dass dem Krieg ins Antlitz gesehen werden konnte. Insofern wurden gerade die rekonstruierten Gesichter zur wichtigsten Ikonografie der Pazifismusbewegung.

Zum anderen sollten die Soldaten nach ihrer Rückkehr wieder eine "ansehnliche" Rolle im sozialen Gefüge einnehmen können.
Die Masken des Krieges
Bild: Project Facade
Vor manchen Entstellungen mussten die damaligen chirurgischen Techniken jedoch kapitulieren. Von der britischen und der französischen Armee wurden daher KünstlerInnen beschäftigt, die Gesichtsmasken für Soldaten anzufertigen hatten.

Der Künstler Francis Derwent Wood sagt über seine Aufgabe: "Meine Arbeit beginnt da, wo die des Chirurgen endet ¿ Anhand meiner Fertigkeiten als Bildhauer versuche ich die Gesichter der Soldaten wieder so hinzubekommen, wie sie vor der Verwundung ausgesehen haben."

Bild rechts: Letzte Pinselstriche auf einer Gesichtsmaske (Filmstill, ca. 1916; Red Cross Museum Archive, Washington; entlehnt von Project Facade)
->   Tin Facial Prosthetics by Ladd and Wood (Video zum Download)
Das Gesicht als Maske?
 
Bild: Project Facade

Hier wird die Herstellung von Masken als Ergänzung oder gar Ersatz chirurgischer Bemühungen in Anschlag gebracht.

Lässt sich die Analogie zwischen Maskenproduktion und Chirurgie auf das Verhältnis zwischen Gesicht und Maske ummünzen? Stellen Chirurgen Masken her, wo Gesichter in den Blick geraten? Ist gar das operierte Gesicht eine Maske?
Schönheitschirurgie als Ver- und Ent-Stellung ...
Besonders deutlich wird die Verwandtschaft der plastischen Chirurgie mit der Maske immer dann, wenn Schönheitsoperationen als Vorgaukelung falscher Tatsachen kritisiert werden. Der MTV Serie I want a famous face etwa wurde vorgeworfen, es würde darin ein illusionärer Zusammenhang von Erfolg und gutem Aussehen verbreitet. Die Übernahme eines berühmten Gesichts diene nur dazu, die erfolglose Identität dahinter zu verschleiern.

In Erzählungen von PatientInnen erfährt die Relation von Gesicht und Maske jedoch geradewegs eine Umkehrung. Oftmals wird das "natürliche" Gesicht als irreführende Oberfläche dargestellt, die den Blick der Anderen auf die eigene Identität verstelle. Durch die Operation wird das falsche durch das richtige Gesicht ersetzt. Schönheitschirurgie wird so zur Demaskierung, zur "Ent-Stellung" als Revidierung einer gegebenen Verstellung.
... oder als Herstellung eines Menschenbildes?
Während die Verstellungs- und Ent-Stellungsdiskurse eine Opposition von "wahrem" und "falschem" Gesicht fortschreiben, hat die Schönheitschirurgie als Maskerade noch eine andere Bedeutung.

Das Messer der Chirurgen nämlich modelliert am menschlichen Körper selbst ein Menschenbild, in dem diese Unterscheidung aufbricht (R. Weihe). Während die Gesichtsmasken der Soldaten als "künstliche" Visagen erkenn- und deutbar sind, integriert sich in der Schönheitschirurgie die Maske mehr oder weniger nahtlos in das "natürliche" Gesicht. Die Operation ist zumal am erfolgreichsten, je "natürlicher" sie eine Erscheinung zu gestalten vermag.
->   Mehr dazu: R. Weihe "Über die Aktualität einer Totenmaske"
Was ist Natur?
Damit fügt sich die Schönheitschirurgie in jene Zeitdiagnose, die für die "Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit" (G. Böhme) gestellt wurde und die eine Verwischung der Differenz von gegebener Natur und selbst bestimmter Gestalt, von Faktizität und Entwurf konstatiert.

Anders gesagt: Angesichts der Möglichkeiten technischer und plastischer Reproduktion des Körpers muss der Begriff der "Natur" für den Menschen neu definiert werden. Damit wird auch das Verhältnis von Gesicht und Charakter sowie von Gesicht und Maske einer Neukodierung unterzogen.

[26.1.07]
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Über die Autorin
Nora Ruck ist Doktorandin im Fachbereich Psychologie an der Universität Wien und IFK_Junior Fellow.

Publikationen, u. a.: Das geteilte Selbst. Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn, in Alfred Pritz (Hg.), Hundert Meisterwerke der Psychoanalyse, Wien (Rezension, im Druck); (gem. mit dems.), Wilhelm Reich. Charakteranalyse, in: Alfred Pritz (Hg.), Hundert Meisterwerke der Psychoanalyse, Wien (Rezension, im Druck); (mit dems.), A portrait of a dialogical self, in: International Journal of Dialogical Science (in Vorbereitung); (mit dems.), Face-to-face or voice-to-voice? Electronic media and the metaphor 'voice' in dialogical self theory, in: Culture & Psychology (in Vorbereitung).
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01.01.2010