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Moscheen: Spiegelbild islamischer Mathematik?  
  Zwei US-Physiker haben die Mosaike auf mittelalterlichen Moscheen und Palästen untersucht und darin geometrische Elemente gefunden, die auf eine hochstehende mathematische Tradition schließen lassen.  
Sollte das zutreffen, dann waren die Mathematiker des Islam ihren westliche Kollegen um Jahrhunderte voraus, berichten Peter J. Lu von der Harvard und Paul J. Steinhardt von der Princeton University. Die so genannten aperiodischen Musterungen wurden in Europa erst in den 1970er-Jahren grundlegend verstanden.
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"Decagonal and Quasi-Crystalline Tilings inMedieval Islamic Architecture" von Peter J. Lu und Paul J. Steinhardt erschien in "Science" (Bd. 315, S. 1106; doi: 10.1126/science.1135491).
->   Science
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Das Parkettboden-Problem
Wie bedeckt man eine ebene Fläche mit symmetrischen Figuren, ohne dass Lücken zwischen diesen Figuren bleiben? Wer einen Parkettboden zu Hause hat, kann diese Frage gleich am Wohnzimmerboden überprüfen. Dabei fällt auf: Offensichtlich kann der Boden nur mit einer begrenzten Zahl von Parkettsteintypen ausgelegt werden. Damit ist nicht deren Größe oder deren konkrete Form gemeint, aber deren Symmetrie.

Lückenlose Muster, die sich regelmäßig wiederholen, sind nur mit Figuren möglich, die eine zwei-, drei-, vier- oder sechszählige Rotationssymmetrie aufweisen.

Ein Quadrat beispielsweise hat eine vierzählige Rotationssymmetrie, da man es nach einer Drehung um 90 Grad mit sich selbst zur Deckung bringen kann. Bei einem regelmäßigen Sechseck ist hingegen eine Drehung um 60 Grad nötig, deswegen ist seine Symmetrie sechszählig.
Verbote in der Welt der Kristalle
Was für den Parkettboden gilt, gilt in allgemeiner Form auch für Kristalle. Kristalline Muster sind definitionsgemäß periodisch, und auch hier kommen die erwähnten Zweier-, Dreier-, Vierer- und Sechsersymmetrien vor. Nicht antreffen wird man in der Welt der Kristalle hingegen regelmäßige Fünf- oder Zehnecke. Wie der französische Physiker und Kristallograph Auguste Bravais im Jahr 1850 nachwies, kann man mit ihnen prinzipiell kein periodisches Muster konstruieren.
Pentagonale Tradition
 
Bild: W. B. Denny

Bild oben: Torbogen der Sultanloge in der Grünen Moschee, Bursa, Türkei (1424).

Aperiodische Mosaike lassen sich mit Fünf- oder Zehnecken hingegen sehr wohl aufbauen. Das wussten offenbar schon die islamischen Architekten im Mittelalter. Zeuge dieser langjährigen Kunst, Flächen mit Sternen, penta- und dekagonalen Figuren zu bedecken, sind die Moscheen, Mausoleen und Paläste der islamischen Welt.

Die beiden US-Physiker Peter J. Lu und Paul J. Steinhardt haben nun diese so genannten Girih-Musterungen berühmter Bauwerke aus der Türkei, Afghanistan, dem Iran und dem Irak genauer unter die Lupe genommen und kommen zu einer überraschenden These. Bisher nahm man nämlich an, dass die aperiodischen Muster der islamischen Bauten ganz konventionell mit Zickzacklinien unter Zuhilfenahme von Zirkel und Messlatte konstruiert wurden.
Universelle Konstruktionsmethode?
 
Bild: K. Dudley und M. Elliff

Bild oben: Ausschnitt eines Torbogens aus dem Darb-i Imam Schrein, Isfahan, Iran (1453).

Nach Meinung von Lu und Steinhardt ist das unwahrscheinlich. Und zwar deshalb, weil die Girih-Tradition ab etwa 1200 unserer Zeitrechnung einen Grad an Komplexität erreicht hat, der mit dieser Konstruktionsmethode nur mehr sehr schwer zu bewältigen ist.

Die beiden Physiker vermuten dagegen, dass die Mosaike mit einer geometrischen Universalmethode aufgebaut wurden. Und zwar quasi Stück-an-Stück mit fünf genormten Kacheltypen.

Diese Girih-Kacheln sind deswegen interessant, weil man mit ihnen fast beliebig komlexe Formen herstellen kann, die eine nahe Verwandtschaft zur so genannten Penrose-Parkettierung aufweisen. Dabei handelt es sich um eine Methode, die der britische Mathematiker Roger Penrose im Jahr 1974 vorschlug, um aperiodische Muster zu konstruieren. Ursprünglich wurde das nur als eine mathematische Spielerei angesehen, mittlerweile hat man jedoch Materialien entdeckt, deren Atome tatsächlich wie die Penrose-Kacheln angeordnet sind.
Kunst oder Wissenschaft?
"Wir wissen nicht genau, was das bedeutet", sagt Peter J. Lu. "Es könnte zeigen, dass die Mathematik in der mittelalterlichen islamischen Kunst eine wichtige Rolle gespielt hat. Es könnte aber auch ein Weg für Künstler gewesen sein, ihre Kunstwerke möglichst einfach zu konstruieren."

Interessanter wäre freilich der erste Fall: Wenn die Girih-Kacheln auf ein tieferes Verständnis aperiodischer Muster hinweisen, dann waren die islamischen Mathematiker ihren Kollegen aus der westlichen Welt mehr als 500 Jahre voraus.

[science.ORF.at, 23.2.07]
->   Peter J. Lu - Harvard University
->   Paul J. Steinhardt - Princeton University
->   Penrose-Parkettierung - Wikipedia
 
 
 
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01.01.2010