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Aufklärung: Gibt es eine Hierarchie der Kulturen?  
  Die Epoche der Aufklärung ist Teil der europäischen Identität, weil sie Demokratie und geistige Freiheit gebracht hat. Für uns ist die Aufklärung ein Wert an sich - aber dürfen wir diesen Standpunkt anderen Kulturen aufzwingen? Diese Frage beleuchtet der Kulturforscher William Rasch, Senior Fellow am IFK, in einem Gastbeitrag.  
"Kampf zweier Unkulturen"

Von William Rasch

In einem Gespräch mit Journalisten von der spanischen Zeitung El País klärt uns Günter Grass über die Entwicklungsstufen der unterschiedlichen Kulturen auf: "Mitnichten findet hier [im Krieg zwischen den USA und islamischen Fundamentalisten - WR] ein Kampf der Kulturen statt - vielmehr ist es eine Auseinandersetzung zwischen zwei Un-Kulturen."

Während, so Grass weiter, Fundamentalisten - ob islamisch oder amerikanisch - Auswüchse der reinsten Unkultur seien, so hätte Europa und die (nicht-fundamentalistische) islamische Welt traditionsreiche und ehrenhafte Zivilisationen hervorgebracht. Grass stellt mit seinen Äußerungen eine Hierarchie der Kulturen her.

Wir Europäer (einschließlich nicht-fundamentalistische Amerikaner) "haben das Glück der Renaissance, der Aufklärung gehabt und damit einen schmerzhaften Prozess durchgemacht, der uns eine Reihe Freiheiten gebracht hat, die immer noch bedroht sind. Die islamische Welt hat diesen Prozess nicht durchgemacht, sie befindet sich auf einer anderen Entwicklungsstufe. Und das", fügt Grass hinzu, "muss man respektieren".
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Veranstaltungs-Hinweis
William Rasch hält am Montag, den 12. März 2007 um 18.00 c.t. am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen Vortrag mit dem Titel "Enlightenment as religion: On being European - and human" (Vortrag in englischer Sprache). Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien.
->   IFK
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Missionare der Aufklärung?
Was meint Grass eigentlich damit, wenn er sagt, man müsse etwas respektieren? Die Aufklärung? Und damit die unterschiedlichen Ebenen der Entwicklung?

Würde das dann im Weiteren bedeuten, dass der Weltgeist, der Prozess der Geschichte, der Entwicklung und des Fortschritts durch den Prozess der Aufklärung von selbst entsteht? Sieht sich Europa immer noch dazu berechtigt, die moralische Leitinstanz für die ganze Welt zu sein?

Bei diesen Fragen handelt es sich um ein altes und immer wiederkehrendes Thema - die Geschichte von der Beziehung Europas (im erweiterten, nordatlantischen Sinne) mit der nicht-europäischen Welt. Im 16. Jahrhundert sind wir ausgezogen, die Welt zu christianisieren, im 19. und 20. Jahrhundert sie zu zivilisieren. Besteht heute, im 21. Jahrhundert, immer noch das große Ziel der Aufklärung: die Zivilisierung der Welt?
Zwei Lesarten: Pluralistisch ...
Unter dem Prozess der Aufklärung verstehen wir gewöhnlich die Säkularisierung des Staates und die Etablierung liberaler politischer und ökonomischer Institutionen - also eine Demokratisierung. Es gibt für die Europäer zwei Zugänge, diesen Prozess zu verstehen:

Zum einen die Aufklärung, Säkularisierung und Demokratisierung als Zeichen einer besonderen europäischen Identität, d.h. als Folgen einer bestimmten historischen Entwicklung. Die Säkularisierung entstand aus den katastrophalen Folgen der religiösen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts sowie aus der Emanzipation der Juden im 18. und 19. Jahrhundert.

Mit dem Aufstieg des Bürgertums entstand die Regierungsform der Republik und begann der Aufstieg des Kapitalismus. Das ist eine bewusst vereinfachte und verkürzte Beschreibung der Entwicklung Europas, aber sie dient als ein mögliches Bild der heutigen europäischen Gesellschaft, mit dem man sich gerne der Welt zeigen möchte. Ob sich die Welt nun an diesen europäischen Werten orientiert oder sie verinnerlicht, steht ihr frei.
... und absolut
Dieser pluralistischen Auffassung steht ein zweiter Zugang gegenüber, der die Aufklärung als absoluten Wert setzt und sie der Welt aufzwingt. Mit dem Begriff der Aufklärung wird hier auch ein moralischer Mehrwert verbunden.

Der Prozess der Säkularisierung und Demokratisierung sei demnach nicht nur die treffliche Lösung europäischer Probleme gewesen, sondern wäre - nein, müsse - auch zur Aufgabe und Pflicht für die ganze Welt werden. In guter Absicht behaupten unsere besten Politologen wie auch unsere schlechtesten Politiker, dass unsere liberalen politischen und ökonomischen Institutionen allen anderen moralisch überlegen seien.

Und das bedeutet im Gegenzug, dass die Bevölkerungen der außereuropäischen Welt aufgefordert sind zu konvertieren und uns gehorsam zu folgen, wenn sie als Menschen und nicht als Barbaren behandelt werden wollen.

Wenn diese zweite Möglichkeit tatsächlich der Fall ist, sollte es uns wundern, dass Widerstand geleistet wird?

[9.3.07]
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Über den Autor
William Rasch ist Professor und Chair der Germanic Studies an der Indiana University, Bloomington, und IFK_Senior Fellow.
Veröffentlichungen v.a. zu Politischer Theorie und Sozialtheorie (unter Bezugnahme auf Arbeiten von Niklas Luhmann und Carl Schmitt). Veröffentlichungen: Niklas Luhmann's Modernity: The Paradoxes of Differentiation, Stanford 2000; Konflikt als Beruf: Die Grenzen des Politischen, Berlin, 2005; Mitherausgeber (gem. mit Wilfried Wilms) einer Essaysammlung über Darstellungen in Literatur und Film von strategischen Bombardierungen während des 2. Weltkriegs: "Bombs Away: Representing the Air War over Europe and Japan", Band 60 der Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik.
->   William Rasch (Indiana University)
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->   Weitere Beiträge zum IFK in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010