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Angereicherte Lebensmittel - die gesündere Alternative?  
  Lebensmittel mit Nährstoffergänzungen sind in. Aktuelle EU-weite Überlegung: Mehl könnte mit Folsäure angereichert werden, um vor allem bei Schwangeren den gefürchteten Neuralrohrdefekt bei Embryos als Folge eines Mangels an diesem Vitamin zu verhindern. Angereicherte Lebensmittel sind aber nicht dasselbe wie "Functional Food". Ein Einblick in den Dschungel funktioneller Lebensmittel.  
Expertendiskussion in Berlin
Macht es Sinn, Mehl mit Folsäure und eventuell auch Vitamin B12 anzureichern? Diese Frage diskutierten Experten vor zwei Wochen in Berlin. Auf Einladung des Deutschen Bundesinstituts für Risikoforschung im Zug der derzeitigen EU-Präsidentschaft besprachen zwölf von 27 Mitgliedsstaaten die Bedeutung dieser beiden essenziellen Vitamine für den menschlichen Organismus, die Mangelsituation und -folgen bei bestimmten Risikogruppen wie Schwangeren, Stillenden und älteren Menschen und die alternativen Möglichkeiten, die Bevölkerung ausreichend damit zu versorgen.

Vorrangiger Sinn und Zweck: Vor allem eine der schlimmsten Folgen eines Folsäuremangels, nämlich Fehlbildungen am Embryo wie beispielsweise dem Neuralrohrdefekt, in den ersten vier Wochen der Schwangerschaft, soll damit verhindert werden. In den USA und Guatemala, wo bereits seit Jahren Mehl mit Folsäure angereichert wird, hat die Maßnahme bereits große Erfolge gezeigt: Die Zahl an Neugeborenen mit einem Neuralrohrdefekt konnte dadurch signifikant reduziert werden.
->   Folsäure-Zusatz halbiert Fehlbildungsrate bei Babys
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Körper kann Vitamine nicht selbst herstellen
Vitamin B12 und Folsäure - auch bekannte als Folat - gehören zu den essenziellen Nährstoffen, die der menschliche Organismus nicht selbst herstellen kann und daher von außen zugeführt bekommen muss. Die beiden Vitamine treten im Stoffwechsel als Duo auf und sind gemeinsam vor allem für die Zellbildung verantwortlich. Sie sind vor allem für die Blutbildung notwendig. Ein Mangel an diesen beiden Vitaminen äußert sich üblicherweise in einer von meheren bekannten Anämieformen.
->   Mehr über Folsäure in Wikipedia.de
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"Vorbild": Jod im Speisesalz
Daher könnte Mehl - ähnlich dem Jod im Speisesalz und dem Vitamin D in der Margarine - mit Folsäure und Vitamin B12 versetzt und die Anreicherung langfristig gesetzlich verankert werden.

Die beiden Pioniere unter den so genannten "angereicherten Lebensmitteln" - Margarine wird bereits seit mehr als hundert Jahren mit Vitamin D versetzt - gehören zu den Paradebeispielen für die nachhaltige Maßnahme, Lebensmittel mit Nährstoffen zu ergänzen und damit die Folgen von Mangelerscheinungen - in diesem Fall die Bildung eines Kropfes beziehungsweise Knochenschwund - zu vermeiden.
Lebensmittel als Trägerstoff für Vitamin
"Durch eine Anreicherung wird entweder ein Nährstoff, der beispielsweise durch die Verarbeitung geringer geworden oder verloren gegangen ist, wieder zugesetzt", erklärt Ibrahim Elmadfa, Leiter des Wiener Instituts für Ernährungswissenschaften. "Oder das Lebensmittel wird generell als Trägerstoff für einen essenziellen Nährstoff verwendet." Denn nicht jedes Produkt kann beliebig angereichert werden: "Wasser mit den fettlöslichen Vitaminen A, E und D zu versetzen, funktioniert nicht wirklich", so der Wissenschaftler, der Mitglied der Expertengruppen "Folsäure" der Deutschen Gesellschaft für Ernährung und "Risikobewertung von Folsäure" des Deutschen Bundesinstituts für Risikobewertung ist.

Hinzugefügt werden bei "angereicherten Lebensmitteln" lediglich physiologische Mengen als Ergänzung - also jene Mengen, die zur Bedarfsdeckung für den Menschen notwendig sind. "Dafür gibt es EU-weit festgeschriebene Werte für alle Nährstoffe", ergänzt Elmadfa. "Für Folsäure ist dies zirka 300-400 Mikrogramm pro Tag."
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Angereicherte Lebensmittel kein "functional food"
Angereicherte Lebensmittel sind nicht zu verwechseln mit "functional food": Der Begriff umschreibt im Lebensmittelhandel erhältliche Produkte, denen über notwendige Bedarfsmengen hinaus Nährstoffe hinzugefügt wurden. "Damit geht die Wirkung des Lebensmittels über seine primäre Funktion als Energie- und Nährstofflieferant hinaus und übernimmt eine weitere Funktion, die therapeutische beziehungsweise pharmakologische oder die Gesundheit unterstützende Bedeutung hat", führt der Ernährungswissenschaftler aus.
->   Functional Food - Wirkt es, oder nicht?
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Nahrung als Arzneimittel?
"Man entwickelt sozusagen ein neues funktionelles Lebensmittel." Die Ergebnisse: Joghurts mit Darm regulierenden Milchsäurebakterien, Brot mit Cholesterinspiegel senkenden Omega-3-Fettsäuren, Fertigsuppen mit Vitaminen für den Knochenaufbau und Fruchtsäfte mit die Verdauung fördernden Ballaststoffen - lauter Lebensmittel, die den modernen Produktdschungel im Lebensmittelhandel immer mehr einem Gesundheits- und Wellness-Zentrum ähneln lassen.

Wer sein Produkt tatsächlich als Therapeutikum beispielsweise zur Cholesterinspiegelsenkung oder Darmregulierung verkaufen wollte, müsste eigentlich den Wirkungsnachweis über eine klinische Studie erbringen. Theoretisch würde "functional food" damit auch nicht unter das Lebensmittelgesetz, sondern unter das Arzneimittelgesetz fallen.
Geschickte Marketing-Strategien der Firmen
Die Praxis sieht üblicherweise anders aus: "Die Firmen preisen mit ihren Marketingstrategien ihre Produkte so raffiniert an, dass sie zwar keine Therapeutika, aber zumindest wertvolle Nahrungsergänzungs- und Wohlfühl-Lebensmittel sind", so Elmadfa. Viele der Produkte haben tatsächlich - bei regelmäßigem Konsum - eine Gesundheit fördernde Wirkung.
Kein Vitaminmangel bei ausgewogener Ernährung
"Wer sich ausgewogen und vielseitig ernährt, braucht diese functional-food-Produkte ohnehin nicht", resümiert Elmadfa. "Wer nicht gerade permanent nach dem FdH-Prinzip lebt, nimmt damit fast alle notwendigen Nährstoffe zu sich."

Einzig kritisch sind vor allem Vitamin D und Jod - jene Nährstoffe also, die ohnehin obligatorisch in den bekannten Lebensmitteln angereichert werden.
Mangelversorgung bei Risikogruppen
Im Gegensatz zu Jod und Vitamin D ist aber nur ein Teil der Bevölkerung tatsächlich von einem Folsäure-Vitamin B12-Mangel betroffen. Laut der AK-Studie "Wer braucht sie? Nahrungsergänzungsmittel und funktionelle Lebensmittel" aus dem Jahr 2006 sind Herr und Frau Österreicher sogar gut mit B-Vitaminen - also auch mit Folsäure und Vitamin B12 - versorgt. Mit Ausnahme eben der Risikogruppen Schwangere, Stillende und ältere Menschen.
->   AK-Studie über funktionelle Lebensmittel als .pdf
Langzeitschäden bei Überdosierung nicht bekannt
Bis es aber tatsächlich zu einer Anreicherung von Mehl mit Folsäure und Vitamin B12 kommen kann, wird allerdings noch viel zu diskutieren, analysieren und bewerten sein. "Es sind viele Fragen offen", so Elmadfa.

"Beispielsweise das Risiko und mögliche Langzeitschäden einer Überdosierung bei der restlichen Bevölkerung. Wir wissen auch nicht, ob die derzeit vorgesehene Anreicherungs-Menge von Folsäure im Vergleich zum durchschnittlichen Konsumverhalten von Mehl ausreichend ist, um überhaupt eine relevante Versorgung der Risikogruppen zu erreichen. Außerdem soll auch kein Bürger zwangsbeglückt werden. Daher muss man auch über alternative Methoden der Bedarfssicherung nachdenken." Es werde demnach einige Zeit vergehen, bis es konkrete Umsetzungen geben werde, fasst Elmadfa zusammen.
Gesetz zur Folsäureanreicherung in Begutachtung
Österreich glänzte übrigens beim EU-Expertentreffen in Berlin mit Abwesenheit. Und dies, obwohl es das einzige EU-Land ist, das bereits einen Gesetzesentwurf für eine Anreicherung von Mehl mit Folsäure - das "Folsäuregesetz" - vorgelegt hat, der sich derzeit in der Begutachtungsphase befindet.

Eva-Maria Gruber, 16.3.07
->   Institut für Ernährungswissenschaften (Uni Wien)
->   Deutsches Bundesinstitut für Risikobewertung
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01.01.2010