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Fußball als erfolgreiches Nationaltheater  
  Wer ein Fußballspiel zweier Nationalteams sieht, erfährt auch einiges über nationale Identitäten. Ein schönes Beispiel für dieses "Nationaltheater" lieferte die Fußball-WM im vergangenen Jahr, die aus deutscher Sicht zum "Sommermärchen" wurde. Während dies auf das überraschend ansehnliche Spiel der Deutschen gemünzt war, hält der Theaterwissenschaftler Erhard Ertel den Begriff in einem anderen Sinn für treffend.  
Die politische und wirtschaftliche Einheit Deutschlands, die durch den nationalen Kitt des Fußballs vermeintlich erreicht wurde, sei bloße Illusion, meint er im science.ORF.at- Interview.

Dennoch gelinge dem Sport die Stiftung nationaler Identitäten prinzipiell besser als dem historischen Nationaltheater im Sinne Lessings.

Vor den beiden Vorbereitungsspielen der österreichischen Fußballteams zur EURO 2008 erinnert er auch an manch grausame Aufführung.
Bild: EPA
Der Kopfstoß
science.ORF.at: Die Szene der letzten Weltmeisterschaft, die am besten in Erinnerung bleibt, ist der Kopfstoß von Zinedine Zidane gegen Marco Materazzi im Finale. War das "großes Theater", eine Ikone der WM?

Erhard Ertel: Im ästhetischen Sinne der Perzeption sicher nicht. Es war ja nicht gespielt, sondern eine unglaublich affektbeladene, eigentlich unschöne Handlung. Aber von der Theatralik und Dramatik war das schon eine große Szene.

Das Endspiel begann ja sehr unausgegoren, dann bahnte sich ein Vorteil für das französische Team an, mit einem möglichen glorreichen Karriere-Ende von Zidane. Statt Krönung folgte aber sein Kopfstoß, der Ausschluss, die Niederlage, das war natürlich extrem tragisch.

Spitzensportler sind zwar mittlerweile zu einem hohen Grad Maschinen geworden, darunter gibt es aber auch noch einen "Rest Mensch", und der wird in solchen Situationen sichtbar. Was wiederum sehr sympathisch ist.
Bei einer WM vertreten diese "Menschen-Maschinen" Nationen. Wie hängen Nationaltheater mit diesem "Nationaltheater Fußball" zusammen?

Historisch ist der Begriff des Nationaltheaters in der Aufklärung aufgekommen, mit dem - vergeblichen - Versuch, in Deutschland ein Nationaltheater zu gründen und so die Nation zu einen. Bestimmte Identifikationsangebote wurden durch das Theater geliefert, das Trauerspiel etwa sollte Wertvorstellungen vermitteln.

Das ist die gleiche Funktion, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts ausgehend von England auch der Sport übernommen hat. Im Unterschied zum Theater der Lessing-Zeit hat es der Sport geschafft, nationale oder wenigstens regionale und lokale Identitäten zu stiften.

Während er auf die vorhandenen Sozialisierungsmechanismen Rücksicht genommen hat, war das Theater mit seinen Bestrebungen, "von oben" Identifikationsangebote zu machen, weniger erfolgreich. Der Sport hat an real praktizierte körperliche Befindlichkeiten angeknüpft und daraus Identitätsmuster geschaffen.
Bild: EPA
Das Sommermärchen
Zuletzt scheint das 2006 gelungen zu sein, als Deutschland angeblich ein "Sommermärchen" erlebte, also eine spezielle Gattung der Literatur.

Das so genannte Sommermärchen 2006 verweist für mich auf die WM 1990, als Deutschland kurz nach dem Mauerfall Weltmeister geworden ist. Damals hieß es, dass die gesamtdeutsche Mannschaft von nun an auf Jahre unschlagbar sein werde. Und das wurde auch für die politische und wirtschaftliche Entwicklung in Anspruch genommen.

Wie wir wissen, war das Gegenteil der Fall, die Mannschaft wurde immer durchschnittlicher - das gleiche galt für Ökonomie und Politik. Die Spaltung in West und Ost existiert nach wie vor, sie ist zum Teil größer geworden.

1990 war ein großes Illusionstheater, das sich bis heute nicht bestätigt hat. 2006 war für mich ein Auffrischen dieser Illusion. Den Begriff "Sommermärchen" halte ich für zutreffend, denn es war eben nur ein Märchen.
Im Ausland war man vor allem ob des plötzlich attraktiven Fußballspiels der Deutschen und ihrer feiernden Fans überrascht, wie konnte das passieren?

Es fanden zwei Inszenierungen statt: Die erste betraf die Fußballer. Ich glaube, dass Trainer Klinsmann seine Theatralik sehr gut auf das Team und die Fans im Stadion übertragen hat.

Wenn man ihn so ansieht, ist er ja eher unauffällig, aber auf der Trainerbank, wenn die Kameras laufen, kann er unglaublich animieren, er hat fast hypnotische Fähigkeiten. Damit konnte er die Spieler enorm motivieren. Durch die Euphorie, die sich zunehmend eingestellt hat, ist das Team immer besser geworden.

Zweitens dann die Außeninszenierung: Die Euphorie hat es nicht im ganzen Land gegeben, sondern sie wurde auf bestimmten Bühnen ausgetragen, den berühmten Fanmeilen, dort wurde die Stimmung wie im Ghetto inszeniert. Diese Bilder wurden in die Welt gesendet, abseits davon gab es bei weitem nicht so viel Euphorie.
Wie konnte der Trainer-Hypnotiseur den Spielern die vermeintlich "undeutsche" Spielfreude in der kurzen Vorbereitungszeit vermitteln?

Es ist die Frage, ob stereotype Spielzuschreibungen überhaupt noch passen. Die Brasilianer spielen mittlerweile ökonomisch, die Deutschen fast schon holländisch, es ist, also ob man die nationalen Eigenschaften gewürfelt und neu verteilt hätte.

Die Ursache dafür liegt in der Kommerzialisierung und Professionalisierung des Fußballs in den vergangenen 15 Jahren. Der internationale Spielertransfer hat nationale Spielkulturen ausgehebelt, heute herrscht ein globales Fußballverständnis vor.

Nationale Identitäten gibt es im Fußball kaum noch, umso mehr müssen sie hergestellt werden - etwa durch Fanmeilen bei der WM.
Bild: dpa
Der Höhepunkt
Was verbinden Sie mit dem Nationaltheater Fußball in Österreich?

Natürlich Cordoba 1978, der glorreiche Höhepunkt und seinen sehr genialen und theatralischen Protagonisten, Hans Krankl. In dem Spiel gegen Deutschland lag sehr viel Dramatik, obwohl es aus Sicht der Österreicher eigentlich unbedeutend war.

Und dann kam es bei der WM 1982 zur "Schande von Gijon", als beide Teams sehr früh einen Nichtangriffspakt schlossen. Das war kein Sport, sondern reines Theater. Nach zehn Minuten war der Endstand klar.

Im Gegensatz zum Theater weiß ich normalerweise beim Fußball nie, wie es ausgeht. Hier war das anders, es blieb beim 1:0 für die Deutschen, das beiden half. Es folgte nur noch eine Inszenierung, ein grausames Theater für das Publikum, und auch für die Reporter, die ja alle an dem absurden Theater verzweifelten.
Vertreter der österreichischen Literatur wie Franzobel oder Elfriede Jelinek thematisieren häufig Sport. Spielt da nebst anderem vielleicht auch der Neid eine Rolle auf das, was der Sport im Gegensatz zur Literatur vermag?

Ich glaube jetzt nicht mehr. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das aber anders. Das sieht man in den Schriften Brechts und Benjamins, dass man neidvoll auf das Theater schaut. Inzwischen weiß man aber, dass dieser Wettstreit schon längst verloren ist.

Jedes Jahrhundert hat seine hervorragenden kulturellen Säulen, und so wie das 19. Jahrhundert eines von Musik und Literatur war, ist das 20. Jahrhundert jenes des Sports, der Popmusik und der Medienkultur.

Theaterleute greifen auf Sport als Thema zurück, weil es Teil nationaler Identität ist bzw. diese stiftet. Im Zeitalter der Globalisierung gibt es keine Nationen mehr. Um aber die dadurch entstehenden Defizite zu kompensieren, einer hemmungslosen Ökonomie zu entkommen, werden kulturelle Konstruktionen geschaffen, die ein nationales Zuhause suggerieren.

Das ist eine Inszenierung, die im Sport sehr gut funktioniert. Diese Inszenierungen, dieses neue Nationaltheater braucht natürlich Helden, die zur Identifikation einladen. Und das "richtige" Theater versucht hier kleinmütig zu partizipieren.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 30.5.07
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Erhard Ertel lehrt am Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin und hat im laufenden Semester die Vorlesung "Theater auf dem grünen Rasen: Fußball als Nationaltheater" an der Uni Wien gehalten.
->   Erhard Ertel, FU Berlin
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Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Spitaler/Kreisky: Fußball - Arena der Männlichkeit (13.6.06)
->   Altmodisch global: Die Marke Deutschland (9.6.06)
->   25 Jahre Cordoba: Geschichtliche Bedeutung eines Fußballspiels (20.6.03)
 
 
 
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01.01.2010