News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 
Russland und seine Dichter  
  Kunst und Literatur waren sowohl für das zaristische als auch das sowjetischer Russland immer ein wesentlisches Forum für Zukunftsdebatten. Vermutlich als Reaktion auf die politische Realität entstanden politische Utopien und ein ästhetisch und ideologischer Idealismus. Diesen Zusammenhängen geht der Russist und Germanist Adam Fergus vom IFK in einem Gastbeitrag nach.  
Vergessene Utopien für Russland

von Adam Fergus

Was macht die russischen Kunst so besonders? Eineinhalb Jahrhunderte lang hat man im Westen Russlands Reichtümer trotz oder vielmehr wegen der Abneigung gegen die russische Regierung - ob zaristisch oder sowjetisch - bewundert.

Für die russischen Zeitgenossen aller politischer Richtungen war die Verbundenheit mit ihrer Kunst selbstverständlich, denn in Zeiten politischer Unterdrückung und Zensur war künstlerisches Schaffen weniger stark betroffen.

Aus diesem Grund war die Literatur ein entscheidendes Forum für Debatten über Russlands Zukunft. Gleichzeitig interessierten sich die russischen Künstler und Künstlerinnen für Entwicklungen in der westlichen Kunst, Kultur und Politik, was einen ästhetischen und ideologischen Idealismus in Russland beförderte.
...
Adam Fergus hält am Montag, den 25. Juni 2007 um 18.00 c.t. am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen Vortrag mit dem Titel "Die Schaffung einer Kulturnation: Der Eurasismus und die russische Literatur der Emigration in der Zwischenkriegszeit". Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien.
...
Probleme des idealistischen Extremismus
Die Debatten zur gesellschaftlichen und künstlerischen Weiterentwicklung Russlands blieben Utopie. Im Jahr 1902 - drei Jahre vor Beginn der gescheiterten Revolution von 1905 - kritisierte eine Reihe prominenter Intellektueller in ihrem Sammelband Die Probleme des Idealismus: Die Ideen zur Zukunft Russlands könnten keine Anwendung in der Politik finden. Auch diskutierten sie die Frage, ob die religiösen und ethischen Werte der Intelligenz gänzlich verschwunden seien und ob es bloß darum ging, materielle Fragen zu lösen.

Weitere Bände zu politischen Fragen folgten in den Jahren 1909 und im Jahr der Revolution von 1918: die Schwerpunkte dieser Bände lagen in den Forderungen, dass ethische Werte die Grundlage für den Fortschritt bilden sollten. Die Verfasser kritisierten, dass im Anschluss an die Revolutionen von 1905 und 1917 versäumt wurde, liberale Reformen durchzusetzen. Schuld daran sei der idealistische Extremismus der Intelligenz.

In dem 1918 erschienen Band Aus der Tiefe galt die Oktoberrevolution als endgültiger Sieg des idealistischen Marxismus. In diesem Zusammenhang wurde die Bedeutung der Persönlichkeit in der Gesellschaft intensiver diskutiert und führte somit zu einem neuen Idealismus.
Eine Zukunft für Russland - aus dem Blick der Emigration
Über alle drei Publikationen kann man sagen, dass sie der Rezeption der westlichen Kultur in Russland geschuldet waren. Wenn man aber die Frage nach Utopien für Russland stellt, dürfen die Emigranten nicht vergessen werden.

Nach der Oktoberrevolution 1918 und dem Bürgerkrieg mussten an die zwei Millionen Menschen - Intellektuelle, Adelige, aber auch der Mittelstand - aus dem ehemaligen Russischen Reich flüchten. Die Emigranten hatten ein tiefes Bedürfnis nach einem neuen Russland und beschäftigten sich intensiv mit Fragen einer nationalen russischen Identität.

Sie entwarfen Utopien, die nach der Niederlage der Bolschewisten verwirklicht werden sollten. Wie oft und wie heftig aber Fragen der nationalen Identität auch diskutiert worden waren, wurden sie doch eher selten als Ausgangspunkt eines postbolschewistischen Russlands betrachtet.
Die Eurasisten kämpften für die kulturelle Einheit
Eine Sonderstellung unter den unterschiedlichen Bewegungen der Emigration nahmen die Eurasisten ein. Sie verstanden das ehemalige Russische Reich als eine Einheit, die sich von Europa und Asien kulturell sowie geographisch wesentlich unterschied.

In diesem Raum sollte die Idee eines in der Orthodoxie gegründeten Staates verwirklicht werden. Ein allgemeines Verständnis der gemeinsamen Geschichte und der einheitlichen eurasischen Umwelt sollte, so die Eurasisten, zur bewussten kulturellen Einheit der Völker des ehemaligen Reiches führen.

Trotz ihrer ausführlichen Schriften zur kulturellen Entwicklung Russlands und dem erstrebten Zusammenschluss von Kirche, Staat und Volk, vermochten die Eurasisten jedoch nie zu erklären, wie diese Umerziehung der Bevölkerung durchgeführt werden sollte. Am Ende der 1920er Jahre führten die Erbitterung über Fortbestehen der UdSSR und die ideologischen und politischen Differenzen unter den Eurasisten zu ihrer Auflösung.
Ästhetischer Diskurs als Alternative zur realen Politik
Sowohl die Eurasisten als auch die Verfasser der drei genannten Sammelbände setzten ihre Hoffnungen verstärkt auf die Entwicklung eines idealen Persönlichkeitsbildes - wohl als Reaktion auf die in ihren Augen gescheiterte politische Realität des Bolschewismus und seinen Extremismus.

Als konkrete ideologische Ziele entstanden nach und vor der Revolution philosophische Entwürfe einer idealen Persönlichkeit, die sowohl in der gesamten Gesellschaft als auch im Individuum verkörpert sein sollte. Eine Mischung der westlichen und der einheimischen philosophischen Tradition wurde gar nicht angestrebt; sie zeigt aber den dauernden Einfluss des literarisch-ästhetischen Diskurses der russischen Intelligenz als Alternative zu unmöglich gewordenen politischen Handlungen.

[25.6.07]
...
Über den Autor
Adam Fergus studierte Russistik und Germanistik am New College der Universität Oxford. 2001 begann er dort seine Doktorarbeit über die literarischen Beziehungen der eurasistischen Bewegung und hat an Konferenzen in Großbritannien, den Niederlanden und den USA teilgenommen. Neben seiner Forschungstätigkeit übersetzte er Artikel für "Forum for Anthropology and Culture". Mehrere seiner wissenschaftlichen Rezensionen sind u. a. in "Slavonica", "Ab Imperio" und "Modern Language Review" erschienen.
->   Adam Fergus (IFK)
...
->   Weitere IFK-Beiträge in science.ORF.at
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010