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Musikgeschmack eignet sich am besten zur Distinktion  
  Der Ausdruck der eigenen Identität wird in unserer von Individualismus geprägten Gesellschaft immer wichtiger. Eine Möglichkeit dazu bietet - zumindest aus Sicht der Konsumforschung - die Wahl von Produkten. Dass sich zur Abgrenzung von anderen nicht alle Waren gleichermaßen eignen, haben nun US-Forscher empirisch bewiesen.  
Jonah Berger und Chip Heath von der Universität Stanford haben eine Art "Identitäts-Hitparade" für Produkte aufgestellt.

Die Wahl von Waschmittel, Zahnpasta und Werkzeug taugt ihr zufolge am wenigsten zum Selbstausdruck und Distinktion, die Vorliebe für Musik, Haarschnitt, TV-Sendungen und Automarken am meisten.
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Die entsprechende Studie "Where Consumers Diverge from Others: Identity-Signaling and Product Domains" von Berger und Heath erscheint in der August-Ausgabe des "Journal of Consumer Research".
->   Preprint-Version der Studie (pdf-Datei; Homepage Jonah Berger)
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Konsumforscher erforschen Individuen
Konsumforscher betrachten Menschen als individuelle Konsumenten, das liegt in der Natur ihrer Profession. Wenn diese Menschen miteinander zu tun bekommen und sich womöglich beeinflussen, herrscht Aufklärungsbedarf.

Jonah Berger und Chip Heath erweisen sich in ihrer Studie als gute Vertreter ihres Fachs. Sie schreiben Sätze wie: "Konformität ist eines der grundlegenden Prinzipien sozialen Verhaltens. Obwohl Individuen sowohl gleich sein als auch sich von einander unterscheiden wollen, gibt es bisher wenig Forschungen darüber, wo sich dieser Konflikt zwischen Konformität und Divergenz abspielt."
Bourdieu erklärte Distinktion gesellschaftlich
Auch wenn Berger und Heath den französischen Soziologen Pierre Bourdieu in ihrer Arbeit einmal zitieren, scheinen sie auf sein Werk wenig Wert zu legen. Bourdieu hat große Teile seines Lebens damit zugebracht, den Raum dieses Konflikts zu lokalisieren und empirisch zu beschreiben.

Das Zauberwort lautet "Distinktion" - ein Wille zur Abgrenzung von anderen Menschen, der in verschiedenen Bereichen zur Bildung von Geschmack führt und letztlich zu den bestimmenden, aber doch "feinen Unterschieden" der Gesellschaft, wie auch ein bekanntes Buch Bourdieus aus dem Jahr 1979 lautet.

Darin entschlüsselte er die Kultur des Geschmacks und der Distinktion, die nicht zuletzt der Reproduktion sozialer Ungleichheit dient.
->   Mehr zu den Thesen Bourdieus (Todestag, 25.1.02)
Was gestern noch hip war, ist morgen opportunistisch
Aus Sicht der Konsumforschung jedenfalls scheint es eine Neuerung zu sein, sich mehr auf die sozialen Aspekte zu konzentrieren, die bei der Entstehung von Vorlieben - in ihrer Diktion: bei der Wahl von Produkten - wichtig sind. Jedenfalls betonen Berger und Heath diese Aspekte in ihrer Studie mehrmals als "Neuheit" für ihr Fach.

Was nicht heißt, dass die Auswirkungen des Abgrenzungswunsches nicht schon eindrücklich untersucht worden wären. Einige von Berger und Heath zitierte Blüten der Studienlandschaft:

- Einwohner von Manhattan hörten auf, eine bestimmte Art von Baseballkappen zu tragen, als auch die Tagesgäste des Zentrums von New York begannen, sich mit diesen zu schmücken.

- Bewohner von Shanghai kauften keine Autos mehr vom Typ "VW Santana", seit sie auch von den neureichen Schichten aus den Vorstädten als Statussymbol entdeckt wurden.

- Und auch T-Shirts wurden bereits untersucht: Wer eines mit dem Konterfei einer Independent-Rock-Gruppe trug, galt als "hip", solange sie noch unbekannt war. Wurde die Band erfolgreich, mutierte das Tragen des T-Shirts zum Zeichen von Opportunismus.
Experiment: Verschiedene Distinktionspotenziale
Aber nicht alle Bereiche eignen sich gleichermaßen für die Unterscheidung von anderen: Jonah Berger und Chip Heath gingen von der These aus, dass es vor allem jene sind, die starke Rückschlüsse auf die Identität ihrer Benutzer zulassen. Um dies zu untersuchen, haben sie eine Reihe von Experimenten durchgeführt.

Bei einer dieser Studien mussten Studenten zwischen drei Optionen aus 19 Produktkategorien - vom Waschmittel bis zur CD - wählen. Das einzige Entscheidungskriterium: Die Studienleiter sagten ihnen, dass 65 Prozent aller anderen Studierenden zuvor Option A gewählt haben, 25 Prozent Option B und zehn Prozent Option C.

Letztere hat folgerichtig das höchste "Distinktionspotenzial". Nach dieser Information mussten die Studenten ihre Entscheidung treffen.
Spülmittel eignet sich nicht zum "anders sein"
 
Grafik: Berger/Heath

Die Ergebnisse fielen höchst unterschiedlich aus: Bei einigen Bereichen war der Wunsch nach Unterscheidung sehr gering ausgeprägt, bei anderen dafür umso deutlicher.

Bei Geschirrspülmittel, Zahnpasta und Werkzeug-Sets wählten nur rund zehn Prozent der Studierenden die Option C (schwarzer Balken), rund drei Viertel schlugen sich mit der Option A (grauer Balken) auf die sichere Seite des Mehrheitsurteils.

Ganz anders war es bei CDs, Autos, Essen und TV-Sendungen: Hier wählten nur fünf bis 25 Prozent den "Massentrend" der Option A (grau), zwischen 30 und 67 Prozent votierten für Option C (schwarz) - also die Minderheitsvariante, die die meiste Unterscheidung von den anderen verspricht.
Gilt auch für fortgeschrittenere Semester
Eine US-weite, repräsentative Studie (Altersdurchschnitt der Teilnehmer: 38 Jahre) mit gleichem Setting kam zu dem selben Schluss: Auch hier vertrauten die meisten bei Waschmitteln und anderen "praktischen" Gegenständen auf das Urteil der Mehrheit, bei Musik- oder TV-Vorlieben wurde hingegen überwiegend die Minderheitsoption gewählt.
Musik und Haarpracht für Ausdruck der Identität
In einer weiteren Studie präzisierten die Forscher den Zusammenhang zwischen Produktwahl und identitätsstiftenden Elementen. Dazu befragten sie eine andere Studiengruppe in einem ersten Schritt, welche der 19 Bereiche am besten zum Ausdruck der eigenen Identität und jener von anderen geeignet sind.

Daraus wurde eine "Identitäts-Rangliste" erstellt: Fahrradlichter und Waschmittel stehen dabei auf dem unteren Ende der Skala, Musik und Haarschnitt auf dem oberen. In einem zweiten Schritt hatte auch diese Studiengruppe aus den Optionen A, B oder C zu wählen.

Es zeigte sich, dass in den Bereichen mit der besten Möglichkeit zu Selbstausdruck und Identitätsbestimmung - Musik, Haarstil, TV-Sendung, Jacken und Autos - die Minderheitenlösung C am öftesten gewählt wird.
Soziale Natur entscheidend
Die Ansicht, wonach diese Bereiche besonders identitätsrelevant sind, wurde von allen Teilnehmern der Studie geteilt, gleichgültig welcher demographischer Herkunft sie waren. Wie Berger und Heath betonen, unterstreichen ihre Resultate die soziale Natur der Distinktion.

"Individuen wollen sich von Mehrheiten nicht in allen Bereichen unterscheiden, sondern nur in jenen, wo andere nach Signalen ihrer Identität suchen", fassen sie diese soziale Natur zusammen. Und unterscheiden sich damit von Bourdieu schon ein bisschen weniger.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 13.7.07
->   Jonah Berger, Universität Stanford
->   Chip Heath, Universität Stanford
->   Abstract der Studie (Journal of Consumer Research)
 
 
 
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01.01.2010