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Techniker und Psychoanalytiker wollen Psyche "nachbauen"  
  Die Psychoanalyse wurde in ihrem Geburtsland Österreich historisch größtenteils verdrängt. Von unerwarteter Seite bekommt sie nun Schützenhilfe: Ingenieurwissenschaftler und Psychoanalytiker wollen in einem bisher einzigartigen Projekt voneinander lernen - und gemeinsam die menschliche Psyche "nachbauen".  
Bis dahin wird es zwar noch eine ganze Weile dauern, zum ersten interdisziplinären Expertentreffen dieser Art wird es aber bereits nächste Woche in Wien kommen.

Vertreter der Weltverbände für Elektrotechnik und Neuropsychoanalyse diskutieren dann über die neu entdeckten Gemeinsamkeiten ihrer Branchen, wie am Dienstag bei einer Pressekonferenz in Wien bekannt gegeben wurde.
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Drei Tagungen, eine Schnittstelle
Am 23. Juli findet in Wien das erste "Engineering & Neuro-Psychoanalysis Forum (ENF)" statt. Zum Motto "Emulating the Mind" werden 100 internationale Experten aus den Ingenieurwissenschaften und der Neuropsychoanalyse erwartet. Das Forum liegt zeitlich zwischen den beiden Jahreskongressen der Weltverbände für Elektrotechnik (INDIN 2007) und Neuropsychoanalyse ("n-psa" zum Thema Depression).
->   Engineering & Neuro-Psychoanalysis Forum
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Überprüfung der Freudschen Konzepte
Die Ursachen, warum es zu dieser ungewöhnlichen Kombination gekommen ist, sind unterschiedlich.

Der Psychoanalytiker und Neurologe Georg Fodor war erst "überrascht", bezeichnete die Konfrontation mit den IT-Forschern gegenüber science.ORF.at mittlerweile aber als "sehr lehrreich". "Wenn meine Konzepte der Psyche auch in anderen Bereichen anwendbar sind, spricht das für deren Qualität."
Enttäuschungen der Künstlichen Intelligenz
Dietmar Dietrich, Vorstand des Instituts für Computertechnik der TU Wien, verwies auf die enttäuschten Hoffnungen der Künstlichen Intelligenz (KI).

"Wir forschen seit vielen Jahren zur Automatisierung komplexer Steuerungssysteme. KI hat nicht die gewünschten Resultate gebracht. Das neuropsychoanalytische Modell der Psyche erscheint uns mittlerweile als viel sinnvoller", so Dietrich.

Fodor erklärt es so: "Freud hat den psychischen Apparat auf Grund seiner Funktionen beobachtet und beschrieben. Während er das biologische Korrelat noch nicht gekannt hat, geht es genau darum in der aktuellen Neuropsychoanalyse."
Simulation von Funktionen statt künstlicher Neuronennetze
Und das ist auch, was die Computerwissenschaftler um Dietrich interessiert. Die Forschung zu künstlicher Intelligenz sei in der Vergangenheit viel zu sehr von der Hardware-Seite ausgegangen - den Neuronen bzw. Transistoren.

Jetzt soll der gesamte psychische Apparat unter die Lupe genommen werden - sozusagen die Software - samt der Topologie Freuds mit Ich, Es und Über-Ich.

Mit dem geteilten Wissen soll das Computermodell eines mentalen Apparats entstehen. Nicht künstliche neuronale Netze stehen dabei im Mittelpunkt, sondern die Simulation der psychischen Funktionen.
Einige Eckpunkte des Mental-Modells
Einige der Eckpunkte, die für das Modell des Mentalen von entscheidender Bedeutung sein werden: Einbeziehung und schneller Zugriff auf die Vergangenheit, riesige Datenbanken, Reduktion auf wesentliche Informationen, Implementierung von Gefühlen und Konfliktsituationen - nicht zuletzt auch von Geschlechtlichkeit, was beim derzeitigen Modell aber noch unberücksichtigt bleibt.
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Apparat dynamischer Funktionssysteme
Fodor, Dietrich und Kollegen werden bei der ENF-Tagung den theoretischen Rahmen beschreiben, innerhalb dessen sich das neuropsychoanalytische Modell des Mentalen bewegt. Sie gehen dabei vom russischen Freud-Schüler Alexander Luria aus, dem zufolge das Gehirn als Apparat dynamischer Funktionssysteme aufzufassen ist. Diese Systeme - z. B. Sprechen - sind nicht in bestimmten Gehirnteilen oder -arealen zu lokalisieren, sondern stellen die funktionelle Koproduktion verschiedener neuronaler Netze dar.
->   Neurowissenschaft auf der Suche nach "Ich" und "Es" (5.5.06)
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Über "Bewusstsein" ist man sich noch produktiv uneins
Was bei dem Projekt genau herauskommen wird, darüber herrscht unter den Experten noch "produktive Uneinigkeit". Während die Techniker um Dietrich von der TU Wien mit durchaus leuchtenden Augen von Gefühlen sprechen, die dem System implementiert werden sollen, und auch vor dem kritischen Wort "Bewusstsein" nicht zurückschrecken, gibt sich die Psychoanalyse doch ein wenig zurückhaltender.

Fodor zu science.ORF.at: "Dass am Ende eine Maschine herauskommt, die sich ihrer eigenen Gedanken bewusst ist, kann ich mir zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorstellen. Was ich hingegen für machbar halte: Wenn wir einzelne Funktionen, die der psychische Apparat erfüllt, so exakt wie möglich definieren, dann ist es vorstellbar, dass diese auch technisch reproduzierbar gemacht werden."
Kooperationspartner aus der Wirtschaft
Zeitrahmen gibt es noch keinen für das Projekt, Dietrich verwies auf ein FWF-Projekt und reklamierte die Bedingungen der Grundlagenforschung.

Dass auf dem Weg zu einem möglichen Nachbau des Bewusstseins aber doch einige praktische Anwendungen "anfallen" können, beweist der Kooperationspartner des Projekts, Siemens. Hier verspricht man sich etwa intelligente Regelungssysteme bei Häusern.
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Psychoanalyse im Dialog der Wissenschaften
Seit einigen Jahren tritt die Psychoanalyse verstärkt in einen Dialog mit ihren empirischen Nachbardisziplinen, den Kognitions- und Neurowissenschaften. Die Wiener Psychoanalytikerin Patrizia Giampieri-Deutsch hat über diese interdisziplinäre Zusammenarbeit 2002 ein Buch herausgegeben, das den Stand der Diskussion zusammenfasst.
->   Mehr dazu (9.8.02)
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Auch künstliche Psyche müsste auf die Couch
Sollte am Ende des Projekts tatsächlich etwas herauskommen, das dem menschlichen Bewusstsein ähnlich ist, liegt angesichts der Mitarbeit aus der Psychoanalyse die Frage auf der Hand, ob sich dann auch dieses auf die Couch legen müsste.

Das, so schmunzelt der Psychoanalytiker Fodor, sei zwar bloße Spekulation: "Wenn es aber tatsächlich gelänge, würde es auch anfällig sein für all die Fehlfunktionen, die die menschliche Psyche auch hat."

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 17.7.07
->   Dietmar Dietrich, TU Wien
->   Institut für Computertechnik, TU Wien
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Verdrängung erstmals neurobiologisch bewiesen (9.1.04)
->   Rückblick auf das Freud-Jahr 2006 (27.12.06)
 
 
 
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01.01.2010