News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit 
 
Evolution des menschlichen Gedächtnisses  
  Das menschliche Gedächtnis ist nicht nur sehr persönlich, sondern auch äußerst komplex: Anhand der unterschiedlichen Arten, wie wir uns etwas merken, kann man die Entwicklung des Gedächtnisses in der Evolution nachvollziehen: Vom "prozeduralen" Gedächtnis, das dafür sorgt, dass wir das Radfahren nicht verlernen, bis zum episodisch-biografischen Gedächtnis, das Erinnerungen auf sehr subjektive Weise speichert, war es ein langer Weg, schreibt der Psychologe Hans J. Markowitsch in einem Gastbeitrag. Er leitet beim Europäischen Forum Alpbach 2007 ein Seminar zu dem Thema.  
Das Ich: Entwicklung und Erinnerung
Von Hans Markowitsch

Ewald Hering, ein berühmter Physiologe, stellte 1870 fest: "Das Gedächtnis verbindet die zahllosen Einzelphänomene zu einem Ganzen. Und wie unser Leib in unzählige Atome zerstieben müsste, wenn nicht die Attraktion unserer Materie ihn zusammenhielte, so zerfiele ohne die bindende Macht des Gedächtnisses unser Bewusstsein in so viele Splitter, als es Augenblicke zählt."

Ich denke, dass Hering damit sehr plastisch ausgedrückt hat, dass unser Gedächtnis wesentlich ist für uns als Persönlichkeit und als bewusste Individuen. Damit will ich auch die Frage stellen: Ist unser Gedächtnis, das uns zu selbstbewussten Menschen macht, vergleichbar mit dem Gedächtnis von Tieren? Wie hat Gedächtnis sich in der Evolution vermutlich entwickelt?
...
Seminar beim Europäischen Forum in Alpbach
Hans J. Markowitsch leitet gemeinsam mit Gottfried Spangler beim Europäischen Forum Alpbach 2007 das Seminar "Emergenz des Ich - Frühkindliche Entwicklung" (17.-23.8.2007). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Details zum Seminar
...
Evolutionsbiologische Bedeutung
Aus evolutionsbiologischer Sicht war es für das Überleben des Individuums notwendig, sich beispielsweise über den Geruchssinn daran zu erinnern, welche Nahrung schmackhaft oder welche gar giftig ist.

Ähnliches gilt für das Überleben einer ganzen Gattung: Es war überaus wichtig, sich Aussehen und Geruch von Feinden zu merken oder den Geruch eines paarungsbereiten Partners. Dies zeigt die evolutionsbiologische Bedeutung und Funktion des Gedächtnisses.
Das menschliche Gedächtnis ist sehr komplex
Obwohl alle Tiere mehr oder minder über Gedächtnis in verschiedenen Varianten verfügen, sagen wir, dass unser menschliches Gedächtnis weit über das tierische "hinausgeht", es ist komplexer.

Jeder von Ihnen hat schon mal Ausdrücke gehört wie "Kurzzeitgedächtnis" oder "Langzeitgedächtnis". Im Unterschied zur Alltagsmeinung jedoch ordnen wir in der Gedächtnisforschung das Kurzzeitgedächtnis dem Sekunden- bis Minutenbereich zu, all das, was darüber hinausgeht, dem Langzeitgedächtnis.
Mehr als nur Lang- und Kurzzeitgedächtnis
Vielleicht noch bedeutender ist die Unterteilung des Gedächtnisses in Systeme, die in der Gedächtnisforschung seit etwa zehn bis zwanzig Jahren vorgenommen wird. Es werden fünf Langzeitgedächtnis-Systeme unterschieden:

Das prozedurale Gedächtnis, "Priming", das perzeptuelle Gedächtnis, Wissenssystem, und das episodische Gedächtnis. Alle fünf Systeme bauen aufeinander auf, wobei das "prozedurale" System am Anfang, das "episodische" am Ende der Hierarchie steht. Auch entwicklungsgeschichtlich haben sich die Gedächtnissysteme in dieser Reihenfolge ausgebildet.
Radfahren verlernt man nie
Das heißt also, Babys fangen an mit dem prozeduralen Gedächtnis. Das prozedurale Gedächtnis steht für motorische Fertigkeiten, die wir unbewusst abrufen, wie z.B. Fahrradfahren oder Autofahren. Die Bewegungsabläufe erfolgen hochgradig automatisiert, wir denken gar nicht mehr darüber nach.

Ähnlich unbewusst automatisiert verhält sich das zweite Gedächtnissystem, das Priming-Gedächtnis. "Priming" steht für Prägung, Bahnung. Darunter ist eine höhere Wiedererkennwahrscheinlichkeit für Reize zu verstehen, denen man zuvor unbewusst begegnet ist. Beispiel: Sie hören Musik im Radio und Ihnen fällt zu der Melodie sofort der zugehörige Text ein.
Von Bekanntheit zu sicherem Wissen
Das dritte System, das perzeptuelle Gedächtnis, steht für Bekanntheit, für Familiarität mit Objekten, also dafür, dass wir sicher zwischen Dingen unterscheiden.

Die vierte Stufe enthält Wissen, also unser Allgemeinwissen, d. h. Fakten, von denen wir wissen, dass sie sicher gelten. Beispiel: Paris ist die Hauptstadt von Frankreich oder a2 + b2 = c2.
Erinnerungen sind sehr persönlich
Die fünfte und letzte Stufe, das episodische oder episodisch-biografische Gedächtnis, ist etwas komplizierter. Darunter versteht man die Schnittmenge von subjektiver Zeit und dem sich erfahrenden Selbst.

Das bezieht sich in erster Linie auf Erinnerung an autobiografische Erlebnisse, an Erlebnisse, die wir über eine geistige Zeitreise wieder in unser Gedächtnis zurückrufen, an Erlebnisse, bei denen wir im Regelfall auch eine Bewertung vornehmen.

Wir bewerten, ob die Erinnerung einen freudigen oder traurigen Charakter hatte; es geht auch um Erlebnisse, bei denen wir genau die Umstände erinnern, also den Kontext, und bei denen unser Gedächtnis synchron - das ist wichtig - emotionale und kognitiv-rationale Anteile zusammenführen muss, um die Erinnerung repräsent zu machen.
Fast alles bleibt im Gedächtnis gespeichert
Wir Gedächtnisforscher postulieren, dass wir sehr wenig vergessen. Wir können zwar nicht unbedingt jederzeit alles abrufen, aber wir haben dennoch das meiste, was wir im Laufe des Lebens langfristig eingespeichert haben, weiterhin irgendwo im Gehirn verfügbar.

In der experimentellen Psychologie können wir beispielsweise über verschiedene Fragetechniken Erinnerungen abfragen. Die schwierigste Fragetechnik ist der freie Abruf ohne irgendwelche Hinweisreize.
Dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen
Wenn sich der Proband mithilfe dieser Fragetechnik nicht erinnert, kann man Hinweisreize geben, also wenn es etwa um Namen von Personen geht, dann kann man die ersten Buchstaben von Vor- oder Nachname vorsagen, dann kommt die Erinnerung schon leichter wieder.

Die leichteste Form der Hilfestellung ist das Wiedererkennen: Man sucht nach einem Namen, gibt einfach sechs Namensbeispiele und kommt so sehr einfach auf die Lösung. Das heißt man hatte den Namen gespeichert, auch wenn er zum gegebenen Zeitpunkt nicht ohne weiteres abrufbar war.
Das Gehirn ist kein Computer
Wichtig ist festzuhalten: Gedächtnis und Gehirn sind nicht vergleichbar mit Information und Computer. Das Gedächtnis, insbesondere das menschliche Gedächtnis, ist hochgradig dynamisch, es ist zustandsabhängig; wir schaffen uns unsere Erinnerungen selbst, sie entsprechen nicht unbedingt dem, was zuvor in der Außenwelt, in der Umwelt abgelaufen ist.

In einem depressiven Zustand beispielsweise rufen wir eher negative Erlebnisse ab oder färben diese negativ ein, in einem euphorischen Zustand dagegen die positiven.

Gleichzeitig bedeutet die Zustandsabhängigkeit und Subjektivität von Erinnerung, dass sich unser Gedächtnis im Lauf des Lebens modifiziert, dass Erinnerungen mit jedem Abrufen auch wieder in dem gegenwärtigen Zustand neu eingespeichert werden und damit auch wieder den ursprünglichen Charakter verändern.

[3.8.07]
...
Über den Autor
Hans J. Markowitsch ist Professor für Physiologische Psychologie, Direktor des Zentrums für interdisziplinäre Forschung und Leiter der Gedächtnisambulanz an der Universität Bielefeld. Er hatte Professuren für Biopsychologie an den Universitäten von Konstanz, Bochum und Bielefeld inne und erhielt Rufe auf Professuren für Psychologie und Neurowissenschaften an australische und kanadische Universitäten.
Forschungsgebiete: Gedächtnis und Gedächtnisstörungen, Bewusstsein und Emotion; Autor oder Herausgeber von einem Dutzend Büchern und über 450 Buch- und Zeitschriftenartikeln.
->   Hans J. Markowitsch, Uni Bielefeld
...
Weitere Beiträge zu den Seminaren des Europäischen Forums Alpbach 2007:
->   Patrick Werkner: Kunst-Diskussion - "Geldanlage" und "Wertsteigerung" (1.8.07)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010