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Wie man unbekannte Risiken einschätzt  
  Ohne Versicherungen kein Risiko und ohne Risiko kein Fortschritt: So lautet das Selbstverständnis und die Geschäftsidee von Versicherungsgesellschaften. Was bei bekannten Gefahren noch relativ einfach ist, wird bei neuen Technologien kompliziert. Wie man unbekannte Risiken dennoch abschätzen kann, schildert der Experte für "Emerging Risks", Thomas Epprecht, in einem science.ORF.at-Interview.  
Epprecht ist verantwortlicher Direktor der Bereiche Bio- und Nanotechnologie bei Swiss Re, des weltweit größten Rückversicherungsunternehmens. Er hat vergangene Woche an den Technologiegesprächen des Forum Alpbach teilgenommen.
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Das Thema der Technologiegespräche vom 23.-25.8. lautete heuer "Emergence in Science and Technology". Von der Veranstaltung berichten auch die Ö1 Dimensionen am 27. August um 19:05 Uhr.
->   Mehr dazu in oe1.ORF.at
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science.ORF.at: Sie haben selbst lange als Biochemiker gearbeitet. Haben Sie sich bereits damals mit Ihrem heutigen Thema, dem Risiko, auseinandergesetzt?

Thomas Epprecht: Nein, ich hatte ein klassisches Curriculum. In meiner Dissertation ging es um eine wissenschaftliche Detailfrage, die keine gesellschaftlichen Implikationen hatte. Natürlich beschäftigt man sich mit Risiko im Sinne von Arbeitsplatzsicherheit, schon zum eigenen Schutz und dem der Kollegen. Aber mit Risikobeurteilungen habe ich erst später begonnen, als ich in die Industrie gegangen bin, anfangs im Umweltbereich.
"Versicherer machen die Welt unsicherer, weil sie das Eingehen von Risiken ermöglichen", haben Sie bei Ihrem Vortrag in Alpbach gesagt. Wie sehen Sie die gesellschaftliche Rolle von Versicherungen?

Der Satz ist so gemeint: Wenn Sie keine Versicherung kaufen können und damit im Schadensfall wirtschaftlich untergehen, dann werden Sie das Risiko vielleicht nicht eingehen. Versicherungen sind im Meereshandel entstanden. Sie werden nicht über die Meere schiffen und wertvolle Güter transportieren, wenn Sie das Risiko haben, im Falle eines Sturmes alles zu verlieren.

Das gleiche gilt heute für das Autofahren, das werden Sie auch unterlassen, wenn im Schadensfall keine Kompensationen zur Verfügung gestellt werden können. Die heutige Gesellschaft prosperiert deswegen, weil sie auch in der Lage ist, Risiken einzugehen, und das ermöglichen wir. Die Alternative wäre totaler Stillstand der Gesellschaft.
Ohne Versicherer wäre also Amerika aus westlicher Perspektive noch gar nicht entdeckt?

Ja.
Üblicherweise berechnen Versicherungen ihre Prämien aufgrund früherer Erfahrungen und Statistiken. Bei neuen Technologien und "emerging risks" geht das nicht. Was tritt an die Stelle klassischer Versicherungsprinzipien?

Wenn wir sehen, dass neue Arten von Schäden entstehen, bisherige Arten vielleicht nicht mehr entstehen können, dann müssen wir uns fragen, ob wir noch die richtige Risikoprämie erheben und unsere Kunden noch gegen die richtigen Schäden schützen. Diese Fragen lassen sich nicht immer nur naturwissenschaftlich beantworten, da spielt der gesamte gesellschaftliche und politische Kontext eine Rolle.
Was heißt das konkret, wie versuchen Sie das Risiko neuer Technologien tatsächlich einzuschätzen?

Prinzipiell ist jeder Mitarbeiter von Swiss Re aufgerufen, Merkwürdigkeiten oder neue Entwicklungen zu beobachten und dies in ein System einzuspeichern, das dann zentral ausgewertet wird. Die Swiss Re beschäftigt 55 Naturwissenschaftler und Ingenieure, welche die 500 bis 2.000 größten Firmen weltweit nach ihren Risiken beurteilen. Das ist aber eher retrospektiv. Ein kleiner Teil dieser Leute versucht in die Zukunft zu schauen, hält Ausschau nach Frühindikatoren neuer Risiken. Das ist das einzige, was wir machen können: Zeit zu gewinnen, um schneller reagieren zu können.
Um welche Frühindikatoren handelt es sich dabei?

Ein Beispiel lautet Ambivalenz: Wenn innerhalb der Gesellschaft eine Ambivalenz gegenüber bestimmten Technologien oder Anwendungen vorhanden ist, ist das für uns ein Frühindikator. Etwa beim Mobilfunk: Das Handy akzeptiert man, die Antennen akzeptiert man nicht, das ist ambivalent. Da ist ein gewisses gesellschaftliches Risiko verborgen, vielleicht sogar ein tatsächliches technisches Risiko verborgen, das vielleicht noch nicht erkannt ist.

Ein anderes Beispiel heißt "Deep Pocket". Gemeint sind damit große Unternehmen mit vermeintlich großen Geldtaschen. Wenn man sieht, dass sich v.a. in den USA Anwaltskanzleien darauf konzentrieren, bestimmte Technologien oder Branchen anzugreifen, dann ist das für uns ein Frühwarnindikator. Denken Sie an Mc Donalds, das geklagt wurde, weil ihr Essen angeblich die Dickleibigkeit befördert.
Neue Risiken haben auch für Versicherungen unvorhersehbare Konsequenzen. Wo sind eigentlich Rückversicherungen versichert?

Untereinander. Bei ganz großen Risiken hat man nicht einen einzigen Rückversicherer, sondern Versicherungskonglomerate, die gemeinsam das Risiko tragen. Bei einer Ölplattform oder einer Fluggesellschaft z.B. sind ganz viele Versicherer beteiligt.
Sind Rückversicherungen auch schon pleite gegangen oder hilft in letzter Instanz immer eine staatliche oder öffentliche Institution aus?

Kleinere Versicherungen, die sich nur auf ein Geschäftsfeld konzentriert haben, sind auch schon pleite gegangen. Im Prinzip gibt es keine Staatsgarantien. Aber man hat ja schon bei Bankpleiten gesehen, wenn die Sparer vor dem Nichts stehen, dass der Staat eingreift. Ansonsten gibt es staatliche Vorschriften, wie viele Risiken Versicherungen überhaupt eingehen dürfen, wie viel Kapital sie bereithalten müssen, um welche Risiken eingehen zu können etc. Und das wird natürlich beaufsichtigt.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 27.8.07
->   Swiss Re
->   Technologiegespräche, Forum Alpbach 2007
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01.01.2010