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Neuer IFK-Direktor: "Zurück zur Wirklichkeit"  
  "Zurück zur Wirklichkeit": Unter diesem Motto tritt Helmut Lethen (68) die Direktion des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) in Wien am 1. Oktober 2007 an.  
Die Kulturwissenschaftler hätten sich vielerorts von der Wirklichkeit entfernt, sagte der neue IFK-Chef, ein Literaturwissenschaftler, im Gespräch mit der APA. Es habe sich breitflächig eine Geheimsprache entwickelt, "hinter der die Phänomene der Wirklichkeit im Dunkel versinken".
Sonderstellung des IFK
Eine Sonderstellung in der europäischen Szene der Kulturwissenschaftler nimmt dabei für Lethen das IFK ein, da es in der ganzen Zeit seines Bestehens an einer "sozialhistorischen Dimension" festgehalten hat.

Andere größere Zentren der Kulturwissenschaft seien stark von der Medientheorie beeinflusst worden und dem Trend unterlegen, "alle sozialen Phänomene zu rhetorischen Inszenierungen zu machen", sagte der künftige Leiter des Wiener Wissenschaftskollegs und Nachfolger des Kunsthistorikers Hans Belting. So seien die Kulturwissenschaften gefährdet, keine "Wirklichkeitswissenschaft" mehr zu sein.
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Zur Person
Helmut Lethen, geboren 1939, studierte Germanistik und war nach Lehrtätigkeiten an Universitäten in Berlin und Utrecht von 1996 bis 2004 Professor für Neueste deutsche Literatur an der Universität Rostock. Zu den Veröffentlichungen des Literaturwissenschaftlers zählt ein Buch über die Neue Sachlichkeit (1970) und das Buch "Verhaltenslehren der Kälte" (1994). Zuletzt trat er mit "Der Sound der Väter", einer Publikation zu Gottfried Benn, im Jahr 2006 hervor. Lethen ist bestens mit dem IFK vertraut: Er war Senior Fellow am IFK (2000/01), betreute als Faculty-Mitglied die Sommerakademie "Topographien des Politischen" (2003) und konzipierte gemeinsam mit Peter Geimer die Tagung "Bild und Evidenz" (2003).
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Schwerpunkt "Kulturen der Evidenz"
Bild: APA
Helmut Lethen
Dem setzt das IFK im kommenden Jahr einen neuen Forschungsschwerpunkt unter dem Titel "Kulturen der Evidenz" entgegen. So sollen die Kulturwissenschaften der kulturellen und sozialen Wirklichkeit unserer Lebenswelt wieder näherkommen. Der Begriff Evidenz ist dabei breit zu fassen - vom "plötzlichen Offenbarungserlebnis eines Theologen bis hin zu raffinierten Verfahren, mit denen der Eindruck von Authentizität hervorgerufen wird", so Lethen: "Alle Wissenschaften beanspruchen für sich, Evidenz herzustellen."

Die Evidenz eines Theologen sei aber eine andere als die eines Politikwissenschaftlers, eines Soziologen oder eines Politikers. Vor Gericht, im Museum oder im Kabinett - "das sind ganz verschiedene Verfahren der Evidenzherstellung selbst, die aber alle den Anspruch haben, in die Wirklichkeit einzugreifen." Der Punkt des Eingriffs in die Wirklichkeit ist es, der Lethen interessiert.
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Geschichte des IFK
Das 1993 eröffnete IFK gilt als die führende außeruniversitäre Institution im Bereich der Kulturwissenschaften in Österreich. Das unabhängige Wissenschaftskolleg trägt zur Internationalisierung der österreichischen Forschung bei, indem es international renommierte Wissenschaftler zu Forschungsaufenthalten, Tagungen und Vorträgen nach Österreich einlädt. Zusätzlich engagiert sich das IFK bei der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Pro Jahr kommen knapp 30 Fellows (acht bis neun Dissertanten, zehn Post-Doc-Fellows und zehn Senior-Fellows) an das IFK. Das Budget der Einrichtung beläuft sich auf rund 900.000 Euro pro Jahr.
->   IFK
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Austausch der Wissenschaften
Für Lethen sollten die Kulturwissenschaften unterschiedlichen Wissenschaften und ihren Forschern eine Bühne bieten, auf der sie ihre Ergebnisse austauschen können - "das ist mein Wunschtraum". In diesem Zeichen steht auch eine für 2008 geplante internationale Tagung. Experten wollen der Frage nachgehen, "wie sich eine Anthropologie sinnvoll denken lässt, die sich an den neuesten Ergebnissen der Biowissenschaften orientiert", so Lethen.

Damit holt das IFK die Naturwissenschaftler auf die Bühne. Denn: "Was nützt es, Bilder von der Natur des Menschen ohne empirische Grundlage zu malen?" Die große Hürde ist Lethen zufolge nur, "dass der Kontakt mit Naturwissenschaftlern unglaublich schwer ist." Die Geisteswissenschaftler wollten eine Zusammenarbeit, sie fänden aber nur "unheimlich wenige Naturwissenschaftler, die sprachlich austauschfähig sind".
Austauschfähigkeit der Kulturwissenschaftler
Doch Lethen übt auch Selbstkritik: "Die Kulturwissenschaften brauchen sich aber auch nicht auf ein hohes Ross zu setzen." Die alltagsfähige Austauschfähigkeit von Kulturwissenschaftlern müsse noch unter Beweis gestellt werden.

Die Fähigkeit des "Common Sense" fehle einem Großteil der Kulturwissenschaften - eben so, wie man große Teile der von der Medientheorie geprägten Bereiche der Kulturwissenschaften nicht verstehen würde. "Wenn die Kulturwissenschaften überhaupt den Anspruch habe, eingreifendes Wissen oder Orientierungswissen zur Verfügung zu stellen, müssen sie eine alltagsfähige Sprache sprechen, sonst werden sie sich haltlos isolieren", so Lethen.

[science.ORF.at/APA, 24.9.07]
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01.01.2010