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Gute alte Zeit? Wie Senioren früher lebten  
  Hatten es alte Menschen früher besser? Nein, sagt die britische Historikerin Pat Thane. Das Bild von der "guten alten Zeit" sei ein Klischee, das man jedenfalls nicht aus historischen Daten herauslesen könne. Die Kindersterblichkeit war in früheren Jahrhunderten viel höher als heute - und der typische Alterswohnsitz war das Armenhaus.  
Herzloser Nachwuchs
Sie kennen die Werbespots einer Wiener Versicherung, in denen die ungezogenen Gören ihre Eltern böse hängen lassen. Der Scherz ist ernst gemeint und soll zur Altersvorsorge mahnen. Denn, so der Subtext, die Zeiten ändern sich: Heute kann man sich nicht wie früher darauf verlassen, dass die Bälger, die man aufgezogen hat, sich um einen kümmern, wenn man grau und tattrig ist.

Schön wär's gewesen: Wir projizieren allzu gerne das Bild einer intakten Familie in die Vergangenheit. Alle leben harmonisch unter einem Dach, die Kinder sind die eigene Altersvorsorge. Dabei belehrt schon ein Gang ins Burgtheater eines Besseren: König Lear ist der verblendete Alte, der sich auf seine Töchter verlässt und verlassen wird. Shakespeare greift in seinem Stück von 1605 stark auf volkstümliche Erzählungen seiner Zeit zurück, die zeigen, wie weit verbreitet der Topos des törichten Grauschopfes war.

Zahlreiche Prozessakten vom Mittelalter bis heute belegen Konflikte zwischen den Generationen. Die Alten vermachen noch zu Lebzeiten ihren Kindern Haus und Hof und erhalten dafür für ihren Lebensabend freie Kost und Logis - und müssen nicht selten vor Gericht gehen, um ihre Rechte einzuklagen.

Im späten 18. Jahrhundert hingen an den Toren brandenburgischer Städte sogar große Holzkeulen mit der Inschrift: "Wer sich vom Brot seiner Kinder abhängig macht und Not leidet, soll mit dieser Keule erschlagen werden."
Epidemische Einsamkeit
"Ich war schon immer skeptisch, was die Wahrnehmung des Alters angeht", sagt Pat Thane. Die Historikerin vom Institute of Historical Research der Universität von London beschäftigt sich seit Jahren mit der Geschichte des Alters. Der Blick zurück relativiert so manches Stereotyp.

Einsamkeit im Alter etwa ist sicher keine Besonderheit unserer Gegenwart. Nicht nur weil die Kinder einen verlassen oder vor die Tür setzen, sondern weil sie vorher sterben. "Im 18. Jahrhundert hatte nur jeder dritte Europäer an seinem sechzigsten Geburtstag noch ein lebendes Kind", so Thane - und somit niemanden, der einen versorgte.

Lange Schlangen grauer Häupter vor Suppenküchen und Heerscharen mittelloser Greise in Armenhäusern gehörten bis ins frühe 20. Jahrhundert zum Alltag europäischer Großstädte. Pat Thane glaubt, dass alte Menschen heute zumindest potenziell besser integriert seien. Auch wenn die Kinder weiter weg wohnen, kann man mit ihnen täglich telefonieren oder hinfliegen.
Kindheit überleben
Der mediale Hype um die neue "Generation Methusalem" lässt allzu leicht vergessen, dass es immer schon alte Menschen gegeben hat. Auch im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit erreichten sie in Einzelfällen neunzig oder mehr Lenze. Neu ist nur die große Anzahl alter und sehr alter Menschen.

Dass die durchschnittliche Lebenserwartung in europäischen Gesellschaften bis ins 19. Jahrhundert hinein lediglich bei 30 bis 35 Jahren oder sogar noch darunter lag, ist in erster Linie auf die extrem hohe Kindersterblichkeit zurückzuführen. Beim Durchblättern alter Tauf- und Sterberegister treibt es einem leicht die Tränen in die Augen, wenn man sieht, dass in manchen Familien nur eines von zehn Kindern das Erwachsenenalter erreichte.

Wer aber einmal Kindheit und Jugend überlebt hat, hatte passable Aussichten, sechzig Jahre und älter zu werden.
Andererseits sei manches gleich geblieben, so Thane; so ist das Alter, ab dem man als alt gilt, in fast allen Gesellschaften etwa sechzig Jahre. Dies zeigt sich etwa in der Altersgrenze für den Wehrdienst oder für Geschworene bei Gericht.
Alt ist nicht gleich alt
Die vielleicht wichtigste Lehre aus der Geschichte des Alters ist für Thane die Einsicht, dass "die" Alten früher genauso wenig eine homogene Gruppe waren, wie sie es heute sind. Diese Selbstverständlichkeit wird durch das Etikett "die Alten" nur allzu leicht verdeckt.

Die Spannweite reicht von den ehrwürdig ergrauten Machtmenschen auf dem Thron bis zu den Unsinn brabbelnden Greisen in der Gosse. König Lear freilich deckt das ganze Spektrum ab.

Oliver Hochadel, heureka, 3.10.07
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Dieser Text stammt aus dem Wissenschaftsmagazin "heureka!", das sich in seiner aktuellen Ausgabe dem Thema "Altern" widmet.
->   heureka
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01.01.2010