News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Holocaust-Forscher Saul Friedländer wird 75  
  Das Werk des israelischen Historikers Saul Friedländer gibt eine Ahnung davon, welche Potenziale für die Bearbeitung des Holocaust aus der Verschmelzung von Opferperspektive und Wissenschaft erwachsen.  
Holocaust-Überlebende, meint Friedländer, tendieren im Umgang mit ihrer Vergangenheit zu zweierlei Verhaltensformen: "Manche versuchen sie zu verdrängen. Andere ringen mit ihr, indem sie sich ihr stellen." Friedländer, der am 11. Oktober 75 Jahre alt wird, war selbst ein Überlebender der systematischen Judenvernichtung in Europa.
Vor Verfolgung nach Frankreich geflohen
In Prag als Kind deutschsprachiger Juden geboren, flohen seine Eltern vor der Judenverfolgung mit ihm nach Frankreich. Als die Wehrmacht dort einmarschierte, brachten ihn seine Eltern in ein katholisches Internat.

Sie selbst wurden beim Versuch, in die Schweiz zu fliehen, von Gendarmen des Vichy-Regimes verhaftet, an die Deutschen ausgeliefert und von diesen nach Auschwitz deportiert, wo sie in den Gaskammern des Konzentrationslagers umkamen.
In katholischem Konvent überlebt
Friedländer überlebte in dem Konvent, wo ihn die Geistlichen versteckt hielten. Nach Kriegsende begeisterte er sich für den Zionismus und nahm am israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 teil. Danach studierte er in Tel Aviv, Paris und Genf, wo er 1963 promovierte.

Seit 1976 lehrt er an der Universität Tel Aviv moderne europäische Geschichte, seit 1987 auch in Los Angeles, wohin sich sein Lebensmittelpunkt zunehmend verlagerte. In Israel tat er sich als scharfer Kritiker der Besatzung palästinensischer Gebiete hervor und er trat für einen Dialog mit den Palästinensern ein.
...
Zweibändige Studie zum Holocaust
Als Friedländers Hauptwerk gilt die monumentale zweibändige Studie "Das Dritte Reich und die Juden". Teil 1 - "Die Jahre der Verfolgung 1933 - 1939" erschien 1997, Teil 2 - "Die Jahre der Vernichtung 1939 - 1945" folgte im letzten Jahr. Rezensenten würdigten die Holocaust-Geschichte als erste wirklich umfassende Darstellung der Vernichtung der europäischen Juden, als ein "Meisterwerk der Geschichtsschreibung" (FAZ).
->   Mehr über Saul Friedländer (Wikipedia)
...
"Stimme der Opfer zu Gehör bringen"
Ungewöhnlich ist die Herangehensweise dieses Historikers, seine narrative Darstellungsform, sein oft bewusster Verzicht auf wissenschaftliche Distanz. Den chronologischen Fluss der Ereignisse unterbricht er in harten Schnitten, um persönliche Zeugnisse der Opfer - Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Erinnerungen - einzuflechten.

Er wolle, sagt Friedländer, "die Stimme der Opfer stärker zu Gehör bringen". Auf diese Weise entsteht eine große, wenn auch verstörende Erzählung, die der im Vorwort des zweiten Bands vom Autor geäußerten Absicht Rechnung trägt, die Vernichtung der Juden in Europa gründlich historisch zu untersuchen, "ohne das anfängliche Gefühl der Fassungslosigkeit völlig zu beseitigen oder einzuhegen".
Einzigartigkeit des Holocaust
In der Interpretation des Menschheitsverbrechens Holocaust streicht Friedländer dessen Einzigartigkeit hervor. Die Triebfeder erblickt er in Hitlers obsessivem Judenhass, aber auch in der Bereitschaft der deutschen Machtelite - Partei, Wehrmacht, Intellektuelle - des "Führers" Willen bis ins Letzte umzusetzen.

Die Propagandamaschinerie der Nationalsozialisten trug schließlich die antisemitische Hetze in die gesamte deutsche Gesellschaft.
Distanz zu Goldhagen und Aly
Von der umstrittenen These des US-Historikers Daniel Goldhagen von einem "eliminatorischen" deutschen Antisemitismus ("Hitlers willige Vollstrecker", 1996), der gleichsam genetisch im deutschen Volk angelegt gewesen sei und von Hitler lediglich ausgenutzt zu werden brauchte, hält er nicht viel.

Den deutschen Historiker Götz Aly ("Hitlers Volksstaat"), der das Augenmerk auf die wirtschaftliche Umverteilung als Ergebnis der Judenvernichtung lenkte, schätzt er nach eigenen Worten, hält aber die von Aly betonten materiellen Motive nur für "sekundär".
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
Friedländers gesamtes Werk kreist um dieses Thema. Seine Arbeiten schließen Studien ein über die fragwürdige Rolle der Kirchen im Holocaust, über Todeskult und Nazi-Kitsch oder über die Unmöglichkeit, das nationalsozialistische Deutschland als Teil einer "normalen" Geschichtsperiode zu erklären.

Am 14. Oktober, drei Tage nach seinem 75. Geburtstag, wird Paul Friedländer in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennehmen.

[science.ORF.at/dpa, 5.10.07]
->   Gespräch mit Saul Friedländer (Fritz-Bauer-Institut)
Mehr zum Thema in science.ORF.at:
->   Ausstellung: KZ-Mörder im Liegestuhl (21.9.07)
->   Friedenspreis an Historiker Friedländer (14.6.07)
->   Weltgrößtes Holocaust-Archiv für Forschung geöffnet (16.5.07)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010