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150. Geburtstag von Ferdinand de Saussure  
  Genau vor 150 Jahren, am 26. November 1857, wurde der Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure in Genf geboren. Er gilt als der Begründer der modernen Linguistik und des Strukturalismus.  
Durch Saussure wurden zahlreiche Wissenschaften im 20. Jahrhundert geprägt. Blieb der Strukturalismus bis etwa 1930 auf die Linguistik beschränkt, weitete sich sein Wirkungskreis danach aus.

Claude Levi-Strauss begründete die strukturalistische Anthropologie, Jacques Lacan die strukturalistische Psychoanalyse, Jean Starobinski und Roland Barthes wendeten die Methode von Saussure auf die Literaturwissenschaften an.
Zu Lebzeiten ein bekannter Indogermanist
Bild: Uni Frankfurt
Ferdinand de Saussure
De Saussure stammte aus einer Familie mit einer Reihe berühmter Naturwissenschaftler und studierte an der Universität Leipzig Sprachwissenschaften bei den sogenannten Junggrammatikern.

1881 schrieb er dort seine Dissertation über die Grammatik der indischen Sprache Sanskrit.

Zu Lebzeiten galt Saussure in erster Linie als hervorragender Indogermanist. 1896 wurde er auch auf den Lehrstuhl für indoeuropäische Sprachen und Sanskrit der Universität Genf berufen.
Begründer der Sprachwissenschaft
Zwischen 1906 und 1911 hielt Saussure drei große Vorlesungen zu theoretischer Linguistik, die seinen Ruhm später begründen sollten. Veröffentlicht wurden die Mitschriften der Seminare aber erst nach seinem Tod 1913 von seinen Schülern, die Einarbeitung persönlicher Notizen erfolgte erst 1967.

In dem Werk, 1916 erstmals unter dem Titel "Cours de linguistique generale" publiziert, argumentiert er für die Gründung einer eigenständigen Sprachwissenschaft.
Denken in Dichotomien
"Charakteristisch für Saussures Ansatz ist sein Denken in Dichotomien", erklärte der Philosoph und Germanist Gerald Posselt von der Universität Wien gegenüber science.ORF.at.

Zentral seien Dichotomien wie Sprache/Rede (langue/parole), Bezeichnetes/Bezeichnendes (Signifikat/Signifikant), Synchronie/Diachronie, paradigmatisch/syntagmatisch sowie das Primat, das er der Differenz zuspricht.

"Nach Saussure kann nur die Sprache als System - die langue - im Unterschied zur konkret-individuellen Rede (parole) Gegenstand der Sprachwissenschaft sein."
Synchrone und diachrone Linguistik
Die langue selbst wiederum könne auf zweifache Weise zum Gegenstand der Untersuchung werden: Einerseits kann man sie als ein System von Werten zu einem bestimmten Zeitpunkt betrachten, dies bezeichnete Saussure als "synchrone Sprachwissenschaft".

Andererseits können diese Werte selbst in ihrer zeitlichen Entwicklung untersucht werden, daraus leitete er die "diachrone Sprachwissenschaft" ab.
Denker der Differenz
"Saussures zentrale These ist nun, dass es in der Sprache nur Unterschiede gibt. Die Sprache bildet ein System von Differenzen ohne jede positiven Einzelglieder. Alle sprachlichen Elemente sind nur durch das bestimmt, was sie nicht sind", erklärte Posselt.

Diese differenztheoretische Perspektive erlaubte es, die strukturale Methode von der Sprachwissenschaft auf so unterschiedliche Bereiche wie der Literatur- und Kulturtheorie (Barthes), Anthropologie (Levi-Strauss), Psychoanalyse (Lacan) und der Diskursanalyse (Foucault) zu übertragen.

Menschliche Äußerungen und Verhaltensweisen werden dabei nicht als isolierte Einzelerscheinungen betrachtet, sondern auf dem Hintergrund eines systematischen Zusammenhangs, der ihre Struktur bestimmt.
Weiterentwicklung im Poststrukturalismus
Kritisch weiterentwickelt wird der Strukturalismus ab den 1960er Jahren durch den sogenannten Poststrukturalismus, der gegen die Annahme der Sprache als eines geschlossenen Systems und gegen den universalistischen Anspruch des Strukturalismus das "prinzipiell unabschließbare Spiel der Differenzen" unterstreicht.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 26.11.07
->   Gerald Posselt, Uni Wien
->   Glossar zu dem Thema ("Produktive Differenzen")
->   Ferdinand de Saussure (Wikipedia)
->   Institut Ferdinand de Saussure
->   Aachener Projekt zur Saussure-Biographie
->   Texte von und über Saussure
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Jacques Lacan - umstrittener Intellektueller (16.11.01)
 
 
 
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01.01.2010