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Erich Auerbach: Theoretiker der Mimesis  
  Die Interpretation des Wirklichen durch literarische Darstellung oder "Nachahmung" - so lautet das Programm des Literaturwissenschaftlers Erich Auerbach, dessen Todestag sich kürzlich zum 50. Mal jährte. Im Zeitalter der Postmoderne und des Dekonstruktivismus eines Jacques Derrida klingt das wenig aufregend. Dabei enthält die Art und Weise, wie Auerbach die Wirklichkeit interpretiert hat, durchaus subversive Elemente.  
Gegen die Metaphysik - Es lebe die Wirklichkeit
Die Subversion in Auerbachs Vorgangsweise besteht darin, dass er in seinem Hauptwerk "Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur" ein Realismuskonzept vorlegt, das sich bewusst auf den menschlichen Körper, auf Leidenschaften und Triebe bezieht. Es verweist auf den materiellen Unterbau des Menschen und stellt sich so der Religion und der Metaphysik entgegen.

Die religiöse oder metaphysische Suche nach der absoluten Wahrheit ersetzte Auerbach durch die Beschreibung des konkreten, realistischen Lebens. Darin sah er die Basis für individualistisches und gesellschaftliches Handeln. "Die Novelle fragt nicht nach dem Seienden, nach Grund und Wesen", so notierte er, "ihre Voraussetzung ist ein nach außen abgeschlossener Kreis von Menschen, der eine bestimmte Stellung zum irdischen Leben gewonnen hat."
Auerbachs Leben
Geboren wurde Auerbach am 9.11.1892 in Berlin. Nach einem abgeschlossenen Studium der Rechtswissenschaften absolvierte er noch ein Studium der romanischen Literaturwissenschaft.

Er arbeitete mehrere Jahre als Bibliothekar und erhielt 1929 eine Professur für Romanistik an der Universität Marburg. Wegen seiner jüdischen Herkunft musste er 1936 nach Istanbul emigrieren, wo er bis 1947 an der Universität unterrichtete. Danach lehrte er an verschiedenen amerikanischen Universitäten. 1950 folgte er einem Ruf der renommierten Yale University, wo er bis zu seinem Tod am 13. Oktober 1957 tätig war.

Ein kürzlich publizierter Sammelband - anlässlich des 50. Todestages von Auerbach - beleuchtet die Aktualität dieses Gelehrten, der alles andere war als ein "Grenzpolizist eng konfinierter fachlicher Felder", so die Herausgeber Karlheinz Barck und Martin Treml. Demnach richtete sich Auerbach gegen Spezialisierungsnormen, die heute den Wissenschaftsbetrieb bestimmen.

In diesem Buch wird auch auf Auerbachs Stellung in der europäische Geistesgeschichte und seine Kontakte zu Philologen und Philosophen wie Ernst Robert Curtius, Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und Karl Löwith näher eingegangen.
Literaturgeschichte als Mix von Einzeluntersuchungen
Auerbachs Hauptwerk "Mimesis" bemüht sich keineswegs um das "Wesen des Realismus", sondern beschreibt verschiedene historische Facetten.

Das Buch hat auch nicht den Anspruch, eine umfassende Darstellung des Realismus vorzulegen, sondern präsentiert ausgewählte Analysen, die von Homers Odyssee bis zu Marcel Prousts Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" reichen. Am Beispiel bestimmter Texte demonstriert Auerbach sein Verständnis von realistischer Literatur, die sich am Alltag des Menschen orientiert.
Antiker Realismus: "Das große Fressen"
In seinem Buch "Mimesis" stellt Auerbach zuerst den antiken Realismus vor. Hier kommt die Stiltrennungsregel zur Geltung. Sie besagt, dass "alles gemein Realistische, alles Alltägliche nur komisch, ohne problematische Vertiefung vorgeführt werden darf.".

Als Beispiel des antiken Realismus analysiert Auerbach den Roman "Satyricon" des römischen Schriftstellers Petronius Arbiter, den Federico Fellini kongenial verfilmte. Hier wird das exzessive Gastmahl des Neureichen Trimalchio beschrieben. Die Gespräche der handelnden Personen drehen sich nur um den Reichtum, der den hemmungslosen Genuss ermöglicht.

Die Gespräche sind nichts als "ordinärer Klatsch", der sich selbst als höchstes Gut feiert. Die realistische Schilderung einer völlig dekadenten Schicht ist in sich geschlossen. Jegliche Reflexion über dieses gesellschaftliche Segment und seine Mentalität wird vermieden.
Renaissance-Realismus oder kreatürlicher Realismus
Der Roman "Gargantua und Pantagruel" des französischen Schriftstellers Francois Rabelais (1494 - 1553) beschreibt die Geschichte zweier Riesen - Vater und Sohn - im Rahmen eines völlig absurden Entwicklungsromans. Auerbach bezeichnet den Roman als "Feuerwerk von Witz, von Zeitsatire und Sittengeschichte", als "eine Erziehung zum Lachen".

Immer wieder wird der menschliche Leib mit all seinen Funktionen wie Sexualität oder Defäkation, den der russische Literaturtheoretiker Michael Bachtin als "grotesken Leib" bezeichnete, thematisiert. Auerbach spricht vom "vitalistisch-dynamischen Triumph der Leiblichkeit", der für metaphysische Spekulationen unempfänglich ist.
Tragischer Realismus des 19. Jahrhunderts
Im Realismus des 19. Jahrhunderts ortete Auerbach eine neue Qualität der Texte. Autoren wie Stendhal, Balzac, Flaubert, Dostojewski oder Tolstoi überwanden die bisher gültigen Realismusdefinitionen, "nach welcher das alltägliche und praktische Wirkliche (...) nur als grotesk Komisches seinen Platz in der Literatur haben dürfe.

Die genannten Autoren bahnten den Weg für den modernen Realismus, der sich durch eine "tragische Darstellung der zeitgenössischen alltäglichen Wirklichkeit" auszeichnet. Für Auerbach stellen die Romane von Balzac den Höhepunkt des tragischen Realismus dar. In dieser Literatur "kann jede Person, gleichviel welchen Charakters und welcher sozialen Stellung (...) durch die nachahmende Kunst ernsthaft, problematisch und tragisch gefasst werden."

Auerbachs Fazit: "Meine Bemühung um Genauigkeit bezieht sich auf das Einzelne und Konkrete. Identität und strenge Gesetzlichkeit gibt es in der Geistesgeschichte nicht und abstrakt zusammenfassende Begriffe verfälschen oder zerstören die Phänomene".

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft, 31.12.07
->   Erich Auerbach (Wikipedia)
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Literaturhinweise:
Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. A.Francke Verlag, Tübingen und Basel
Martin Treml/Karlheinz Barck(Hg.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen. Kulturverlag Kadmos, Berlin
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01.01.2010