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Ernst Nolte: "Historikerstreit"-Auslöser ist 85  
  Es war eine der brisantesten Debatten seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland: Vor 22 Jahren löste der Historiker Ernst Nolte mit seiner These, Hitler und der Nationalsozialismus seien eine Reaktion auf die "existenzielle Bedrohung" Deutschlands durch die Russische Revolution, eine Welle der Empörung aus.  
Der Geschichtsprofessor der Freien Universität Berlin wolle den Holocaust relativieren, lautete der zentrale Vorwurf im sogenannten Historikerstreit, der über Monate die Medien beschäftigte.

Die Behauptungen Noltes, der an diesem Freitag (11. Jänner) 85 Jahre alt wird, gelten in der Historiker-Zunft inzwischen als widerlegt.
Bolschewismus und Nationalsozialismus
Doch Nolte hatte einen Nerv berührt. Der Vergleich von Unterdrückungssystemen wie Bolschewismus und Nationalsozialismus, mit denen schon in den sechziger Jahren Hannah Arendt ihre Totalitarismus-Theorie begründete hatte, rückten mit dem Niedergang der Sowjetunion wieder in dem Mittelpunkt.

Lange Zeit hatte gegolten, dass es zwischen sowjetischen Kommunismus und Nationalsozialismus einen unüberbrückbaren Gegensatz gibt. Viele wollten in der Sowjetunion noch an einen humanen Kern glauben.

Doch mit der Öffnung der Archive wurde das ganze Ausmaß der Verbrechen der Stalin-Zeit mit seinen Millionen Toten bekannt. In dem 1997 erschienenen "Schwarzbuch des Kommunismus" sprachen französische Historiker von einem "roten Holocaust".
Politische Folgen
Die frühere lettische Außenministerin Sandra Kalniete löste 2004 bei einer Rede auf der Leipziger Buchmesse einen Eklat aus, als sie von Erkenntnissen sprach, wonach Nationalsozialismus und Kommunismus gleichermaßen kriminell waren.

Der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Salomon Korn, sah darin eine Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus und verließ empört den Saal.
Glaubt noch immer an seine These
Mit ähnlicher Heftigkeit war auch über Noltes Thesen gestritten worden. Der Historiker selbst sieht sich durch Vorwürfe seiner Kollegen, er habe die Nazis verharmlost und sich in die Nähe der Holocaust-Leugner begeben, noch heute ungerecht behandelt. Er habe lange als Verlierer der Debatte gegolten, sagte Nolte jetzt der Deutschen Presse-Agentur dpa. "Vielleicht hat sich das geändert."

In seinen jüngsten Büchern über die Weimarer Republik und Europa hat er seine Thesen wieder aufgegriffen, die immer wieder um die Frage kreisen: Wie war Hitler möglich?

Es gilt für ihn noch immer, dass Nationalsozialismus und Kommunismus die Kontrahenten eines "europäischen Bürgerkrieges" waren, wie er es bereits in seinem 1987 unter diesem Titel erschienenen Buch beschrieben hatte.
Verfasser von Standardwerken
Der in Witten geborene Sohn eines Volksschuldirektors gilt trotz der Verwerfungen als einer der führenden deutschen Historiker der Nachkriegszeit. Seine Habilitationsschrift "Der Faschismus in seiner Epoche" (1963) ist noch heute ein Standardwerk.

Als einer der ersten warf Nolte die Frage auf, was den Nationalsozialismus ausgelöst hat. Dabei brach er mit der im Kalten Krieg maßgeblichen Totalitarismustheorie, die Kommunismus und Faschismus als Unterdrückungssysteme gleichsetzt.

Er erkannte dem Nationalsozialismus eine besondere Qualität als Herrschaftsform zu - als Teil der gesamteuropäischen Geschichte.
Zwei "ideologische Vernichtungspostulate"
Die Studie verschaffte Nolte große Anerkennung. Er bekam einen Lehrauftrag für Neue Geschichte an der Universität Köln und später einen Lehrstuhl in Marburg. Innerhalb der Neuen Linken wurden seine Theorien mit großem Interesse aufgenommen.

Die bürgerliche Gesellschaft, so meint der Historiker, habe mit Faschismus und Bolschewismus zwei "ideologische Vernichtungspostulate" erzeugt. Für Hitler seien der "Antimarxismus" und der Kampf gegen die Russische Revolution eine zentrale Triebfeder gewesen.

In diesem Zusammenhang müsse die Auslöschung des europäischen Judentums gesehen werden.
1986 löste FAZ-Artikel den Historikerstreit aus
Nolte, der 1973 an die Freie Universität Berlin wechselte und bis 1991 als Ordinarius im Fachbereich Geschichte lehrte, spitzte seine Thesen immer weiter zu. In dem 1986 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" veröffentlichten Artikel "Vergangenheit, die nicht vergehen will" sprach er dann von einem "kausalen Nexus" zwischen "Archipel Gulag" und Auschwitz.

Hitler habe vermutlich in der "asiatischen Tat", mit der Lenin und Stalin die Bourgeoisie vernichten wollten, eine Bedrohung gesehen. Hitler sei eine Reaktion auf Lenin.

Zwischen dem "Klassenmord" der Bolschewiki und dem späteren "Rassenmord" der Nazis könnte eine logische und faktische Verknüpfung bestehen. Befremdlich für viele war, wie stark Nolte die führende Rolle von Juden innerhalb der Bolschewiki betonte.
->   Der Text in der FAZ
Habermas hält ihn für Revisionisten
Der Philosoph Jürgen Habermas bezichtigte Nolte in der "Zeit" unter dem Titel "Eine Art Schadensabwicklung" des Revisionismus. Mit der Deutung des Nationalsozialismus als Antwort auf die bolschewistische Bedrohung nehme Nolte dem Nazismus seine Singularität und mache Hitlers Verbrechen "mindestens verständlich".

Der "Spiegel"-Herausgeber Rudolf Augstein warf Nolte vor, das Bürgertum, die Generalität und den Massenmörder Hitler zu entlasten.
Wandel in der politischen Kultur
Seit dem Historikerstreit ist Nolte immer wieder Nähe zu Revisionisten der Nazi-Geschichte vorgeworfen worden. Der Wissenschaftler blieb unbeirrt. In Interviews fragte er, ob die meisten Opfer der Nazis nicht in den Gaskammern, sondern durch Seuchen und Massenerschießungen getötet wurden.

Im Ergebnis, erklärte schließlich der Historiker Heinrich August Winkler, habe die Auseinandersetzung um Noltes Thesen einen Wandel in der politischen Kultur beschleunigt und die "vorbehaltlose Öffnung" der Bundesrepublik gegenüber dem Westen gefestigt.

Esteban Engel, dpa, 10.11.08
->   Ernst Nolte
->   20 Jahre Historikerstreit (3sat)
 
 
 
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01.01.2010