News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 
Grippe: Schon in früher Neuzeit gab es Pandemien  
  Von den frühen Seuchen haben Historiker bisher nur die Pest genauer analysiert. Die Menschen wurden aber schon zu Beginn der Neuzeit auch von anderen Krankheiten mit epidemischem Ausmaß geplagt. Ein deutscher Forscher hat nun durch die Analyse teils neuer Quellen Grippepandemien im 16. Jahrhundert nachgewiesen und sie in Beziehung mit weltpolitischen Ereignissen gesetzt.  
"Catharr in ganzer Welt überhand genommen"
Im Jahr 1580 tauchten laut Wolfgang Behringer von der Universität des Saarlandes Berichte über eine "newe" schreckliche Krankheit auf. Sie breite sich plötzlich und ohne Vorankündigung in rasender Geschwindigkeit aus, hieß es: Von Osten her, aus Asien über Russland kommend, strecke das rätselhafte "epidemische Fieber" europaweit Menschen binnen Tagen und Stunden nieder. "Vermeldter catharr hat in ganzer welt also überhand genommen...", wurde panisch in einer Quelle vermerkt.

Starke Kopf- und Gliederschmerzen plagten die Leidenden, hohes Fieber und schwerstes Krankheitsgefühl. Die Zeitgenossen, deren Erinnerung an immer wieder aufkeimende Pestepidemien frisch war, wussten die Krankheit nicht einzuordnen, schildert Behringer. Er ist sich sicher, dass es sich bei der mysteriösen Krankheit um eine Grippe-Pandemie handelte.
...
Auswertung neu erschlossener Quellen
Wolfgang Behringer, der an der Universität des Saarlandes die Geschichte der Frühen Neuzeit lehrt, hat für die Erforschung der Krankheitsberichte umfangreiche, teils neu erschlossene zeitgenössische Quellen ausgewertet, darunter die europaweit geführte Korrespondenz des Großgrundbesitzers und Kunstmäzens Hans Fugger (1531 - 1598) und die Briefe und Tagebücher des kaiserlichen Botschafters in Spanien Hans Khevenhüller (1538 - 1606).
->   Hans Fugger (Wikipedia)
...
Drei bis sechs Grippewellen pro Jahrhundert
Auch vor dem 16. Jahrhundert, vermutet Behringer, habe es Grippeepidemien gegeben, die dünne Quellenlage aber lasse sichere Diagnosen etwa für das Mittelalter nicht zu. In der Frühen Neuzeit von 1500 bis 1800 fand er zahlreiche Belege für Grippewellen, darunter auch viele Pandemien.

"Im Schnitt gab es drei bis sechs weltweite Grippeausbrüche pro Jahrhundert", schätzt er. "Die Grippe mit ihren diffusen Symptomen wurde dabei regelmäßig als neue, unbekannte Krankheit wahrgenommen. Das plötzliche hohe Fieber und die enorme Schwäche jagte den Menschen großen Schrecken ein", so Behringer.

Für die Pandemie von 1580 fand Behringer Belege in Italien, Spanien, Portugal, Frankreich, England, Deutschland und Böhmen. Vor allem alte Menschen, Schwangere und Kinder fielen der Seuche zum Opfer.
Bedeutung der Krankheit für die Politik
Die Bedeutung der Grippepandemien für die historischen Abläufe sei bislang unterschätzt, lautet Behringers Fazit laut einer Aussendung der Universität des Saarlandes. So sei etwa in Nürnberg der für August 1580 geplante und aufwändig vorbereitete Reichstag erst verschoben, dann abgesagt worden.

"Hauptgrund war die schwere Erkrankung Kaiser Rudolf II. am Kaiserhof in Prag", erklärt er. In Frankreich lagen beide Fronten der Hugenotten-Kriege danieder, mit dem Frieden von Fleix wurden die Kämpfe unterbrochen. Zu den französischen Grippekranken zählten auch Katharina von Medici und Heinrich III.
Philipp II. als Grippeopfer - kein Katholizismus mehr?
Als der spanische König Philipp II. erkrankte, habe die Welt den Atem angehalten, schildert Behringer. Philipp II. führte gerade sein Heer in einen Feldzug Richtung Portugal, mit dem Ziel, sein Imperium zum größten je existierenden Weltreich auszubauen. Philipps schwangere Ehefrau Maria Anna von Österreich starb an der Grippe.

"Der Tod des katholischen Philipps II. hätte die Weltgeschichte fundamental verändert; das spanische Weltreich, die Supermacht der Zeit, drohte mangels Thronfolger auseinander zu brechen wie einst das Reich Alexanders des Großen", erläutert Behringer. Aber der König erholte sich: Portugal wurde annektiert und Philipp II. zog siegreich in Lissabon ein.

Welchen Verlauf die Religionskriege in Frankreich genommen hätten und ob es den Katholizismus in Deutschland und Österreich noch gäbe, wäre auch Philipp II. der Grippe zum Opfer gefallen - Fragen wie diese klingen heute irreal, Spekulationen dazu fand Wolfgang Behringer aber in den Aufzeichnungen von Fugger und Khevenhüller.

[science.ORF.at/idw, 11.1.08]
->   Wolfgang Behringer (Universität des Saarlandes)
Mehr zur Grippe in science.ORF.at:
->   Grippewellen erhöhen Infarktrisiko (27.4.07)
->   Spanische Grippe bewirkte Immun-Kollaps (18.1.07)
->   Grippe-Pandemie könnte 62 Mio. Menschen töten (22.12.06)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010