News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Globalisierung führt zu "Exzess des Privaten"  
  Die Schere zwischen Reich und Arm geht im Zeitalter der Globalisierung auch im Westen zusehends auseinander: Kapitalgesellschaften steigern massiv ihre Gewinne, zugleich gibt es neue Armut und immer mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse.  
Eine entpolitisierte Politik und fehlende Diskussionen in der Öffentlichkeit führen heute zu einem "Exzess des Privaten", meint der Kulturwissenschaftler Lutz Musner in einem Gastbeitrag. Im Privaten werden die Folgen der Globalisierung als Probleme gegenständlich, politisch scheinen sie nicht mehr adressierbar zu sein.

Besonders betroffen ist die "Unterschicht", die als Begriff wieder salonfähig geworden ist. Ihrer Geschichte und der Kultur von sozialer Ausgrenzung geht eine Tagung am IFK in Wien nach.
Unterschicht - zur Kultur sozialer Ausgrenzung
Von Lutz Musner

Während sich Politiker und Medienstars grell als Marken und Shopping-Modells ausloben, markieren sich die dauerhaft Ausgegrenzten mit Tattoos, Piercing und Injektionsnadeln. Und während die noch Beschäftigten ihre Zukunftsängste durch Kaufrausch auszutreiben versuchen, exorzieren die Arbeitslosen ihre Perspektivlosigkeit durch Fremdenfeindlichkeit.

Diese vielfachen Spaltungen der Gesellschaft binden Insider und Outsider unentrinnbar aneinander. Sie befördern so ein Wechselspiel der Schuldzuweisungen, das die einen als rücksichtslos und die anderen als parasitär, die einen nur als Täter und die anderen nur als Opfer erscheinen lässt.
Objektive und gefühlte Unsicherheiten
Die fortschreitende Auflösung jener Berechenbarkeiten, die die soziale Marktwirtschaft im Rahmen einer die biographischen Risiken abfedernden Kultur des Wohlfahrtsstaates bereitstellte, führt dazu, dass Sicherheiten gleich mehrfach in Unsicherheiten überführt werden.

Persönlich als berufliche Unsicherheit, familiär als Zukunftsangst, sozial als Statusunsicherheit und politisch als Ohnmachtsgefühl. So überlagern sich "objektive" mit bloß gefühlten Verunsicherungen und äußern sich in der Hinwendung zum Populismus, der einfache Lösungen für komplexe Problemlagen verheißt.
...
Veranstaltungshinweis
Am 18. Jänner 2008 findet ab 14.00 Uhr am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) die Tagung "Unterschicht. Zur Geschichte und Gegenwart der 'Armut'" statt.
Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Programm und Abstracts
...
Ego-Kulte, Wellness und andere Religionen
Im Kulturellen zeigen sich die Verunsicherungen breiter Schichten in zweifacher Weise an: zum Einen in exzessiv zelebrierten Ego-Kulten von Lifestyle und Konsumexzess bzw. in einem allgemeinen Gefühl von Entwurzelung und Orientierungslosigkeit, und zum Anderen in der wachsenden Anhängerschaft für esoterische oder gar fundamentalistische Sinnangebote in Gestalt von Wellness, radikalen Sekten und Religionsgruppen.

Unter den Bedingungen einer entpolitisierten Politik, die sich auf das Marketing von Unternehmerinteressen in zunehmend apathischen Wählerkollektiven reduziert, wird die Vorstellung eines "romantischen" Selbst obsolet. Die Idee eines unverwechselbaren, tief im selbst angelegten Persönlichkeitskerns verkommt zur leeren Referenz selbsttherapeutischer Entblößungen in TV-Talkshows.
Hoffnung auf ein klein wenig Identität
Dass gerade im Zeitalter der Identitätspolitik, der Lobpreisung des Anderen und der Wertschätzung der globalen Vielfalt der Kulturen "Identität" zur bloßen Fiktion wird, gehört wohl zur großen Ironie spätmoderner Subjektivität.

Wie Zygmunt Bauman feststellt, gleicht heutzutage die Suche nach Identität heute vielmehr "einem Versuch, das Flüchtige und Flüssige zu formen, den Fluss zu bändigen, das Formlose zu formen. (...) Identitäten sind jedoch bestenfalls wie Stücke erkalteter Lava, die sich im feurigen Strom bilden, um dann wieder von ihm mitgerissen zu werden. Also versuchen wir es aufs Neue - und hängen die einzelnen festen Stücke zusammen, hoffen, dass sie passen und die Verbindung stabil bleibt."

Hoffen, dass die Verbindung stabil bleibt und hoffen, dass die Fragmente des eigenen Lebens einigermaßen zusammenhalten, ist für Viele das Maximum, das sie unter den prekären Bedingungen am Arbeitsmarkt und dem Abbau des Sozialstaates erwarten können.
Lebensentwürfe "oben" und "unten"
Für immer mehr Menschen ist aber die Verbindung nicht stabil geblieben und der ohnehin sehr begrenzte Lebensentwurf verloren gegangen. Dem Supermarkt exzessiv zelebrierter Ego-Kulten im obersten Drittel der Gesellschaft steht so eine Kultur der Hoffnungslosigkeit im untersten Drittel gegenüber.

Während die Begüterten auf der Suche nach Einzigartigkeit sich dermaßen enthäuten bis nichts mehr übrig bleibt als das bloße Phantasma von Identität, sind die Marginalisierten damit beschäftigt, eine Illusion der blanken Existenz aufrechtzuerhalten. Während die Konsumfähigen sich von einem "Kick" zum anderen shoppen, sind die zum Konsumverzicht gezwungen Menschen damit befasst, Shopping zu simulieren, um sich nicht gänzlich am Rande zu fühlen.

Während sich die Eliten des Glamours in immer groteskere Selbstinszenierungen versteigen, treibt die universelle "Ökonomie der Aufmerksamkeit" die Randständigen ins White-Trash-Fernsehen und ins Medien-Coverage devastierter Stadtviertel und Banlieues.
Statt öffentlicher Diskussionen Exzess des Privaten
Die realen und bloß vorgestellten Bedrohungen einer Globalisierung, die weder anschaulich noch sonst recht begreifbar ist, sondern vielmehr dem Einzelnen als eine unentwirrbare Mischung von Teilwissen und Desinformation sowie als Medienstrategien von Kapitalinteressen gegenübertritt, führen nicht zu einer klärenden Verhandlung in der Öffentlichkeit, sondern zu einem Exzess des Privaten.

Im "Privaten" sammeln sich nämlich all jene Problemlagen an, die politisch nicht mehr adressierbar sind. Die virtuellen Machtstrukturen international agierender Konzerne und Hedge-Fonds, die den Einzelnen umso massiver schädigen können, bleiben dabei weitgehend unsichtbar. Sie entziehen sich der öffentlichen Diskussion und Abstimmung in den Parlamenten und Kommunen.

Im Privaten werden deshalb die Folgen der Globalisierung als umgreifende Sorge gegenständlich gemacht. Im Privaten werden Ängste in Aggressionen gegen sich selbst und andere umgewandelt. Und im Privaten werden die Folgen einer apolitischen Politik und einer um den demokratischen Widerstreit der Interessen betrogenen Öffentlichkeit in Form von Krankheit, Gewalt und Politikverdrossenheit ausgetragen.
...
Buch-Hinweis
Rolf Lindner, Lutz Musner (Hg.), Unterschicht. Kulturwissenschaftliche Erkundungen der "Armen" in Geschichte und Gegenwart, Rombach Verlag, Freiburg 2008.
->   Das Buch am IFK
...
Abdankung der Politik
In einer grotesken Umkehrung der Verhältnisse wird so das Private zur letzten Instanz des Gemeinwesens und zum absurden Schauplatz der Nichtverständigung von Individuum und Gesellschaft.

In der Auslagerung individueller Sorgen, Ängste und Unzulänglichkeiten auf Medienbühnen und in Tratsch-Events und in der Monopolisierung der Restöffentlichkeit durch die Dramen des Alltags zeigt sich ein Mehrfaches.

Zum Einen das Abdanken von Politik als demokratische Legitimierung sozialer Verhältnisse, zum Anderen die Unmöglichkeit, individuelle Angelegenheiten als politisch relevante Themen zu formulieren, und zum Letzten der obszöne Ersatz von Politik durch bizarre "Personality-Shows".

[17.1.08]
...
Über den Autor
Lutz Musner ist stellvertretender Direktor und Programmleiter am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften. Publikationen u. a. zu Stadtforschung und zur Geschichte der Kulturwissenschaften.
...
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Zwischen Prekariat und Unterschicht (1.5.07)
->   Neue Selbstständigkeit: "Prekariat" verändert die Welt (29.4.05)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010