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Forscher: Vorstellungen vom "natürlichen" Fluss falsch  
  In den USA ist es bereits ein Wirtschaftszweig mit Milliarden-Dollar-Umsätzen: Der Rückbau von regulierten Flüssen zu "natürlichen" Strömen ist - nicht zuletzt aufgrund des Klimawandels und der damit in Verbindung gebrachten Überschwemmungen - ein gutes Geschäft geworden. US-Forscher meinen nun aber, dass das Bild vom ursprünglichen Fluss falsch sei: Statt eines mäandernden Stromes habe es viele feine Kanäle gegeben, zwischen denen sumpfartiges Feuchtland gelegen habe.  
Robert Walter und Dorothy Merritts vom Franklin and Marshall College im US-Bundesstaat Pennsylvania haben in "detektivischer Kleinarbeit", wie es ein Kommentator nennt, Flüsse im Osten der USA analysiert.

Sie konnten nicht nur nachweisen, dass das heutige Idealbild eines Flusses falsch ist, sondern auch den enormen Einfluss von Wassermühlen zur Zeit der Kolonisierung Nordamerikas durch europäische Siedler belegen.
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Die Studie "Natural Streams and the Legacy of Water-Powered Mills" ist am 18. Jänner 2008 in "Science" erschienen (Band 319, S. 299-304, DOI: 10.1126/science.1151716).
->   "Science"
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Natürliches "Standard-Modell"
Der mäandernde Fluss mit einem Bett aus Schotter, begrenzt von durch die Erosion entstandenen, feinkörnigen Überschwemmungsgebiet oder einem Auwald: Dieses Bild eines natürlichen Flusses ist in den 1950er Jahren aufgrund von Studien entstanden.

Den geradlinigen Strom sah man als Produkt menschlichen Einflusses vor allem im 20. Jahrhundert - und Geologen sowie Ökologen waren sich weitgehend einig, dass man diese Flüsse wenn möglich zum natürlichen "Standard-Modell" rückbauen sollte.
Blick in die weitere Vergangenheit
Robert Walter und Dorothy Merritts widersprechen nun diesem Bild: Anstatt sich auf den menschlichen Einfluss im letzten Jahrhundert zu konzentrieren, sollte man weiter zurückblicken.

Dann würde man die tausenden Wassermühlen und Dämme sehen, die zwischen dem späten 17. und frühen 20. Jahrhundert an und in nordamerikanischen Flüssen errichtet wurden. Ihr Einfluss auf den Flussverlauf sowie Geschwindigkeit und Zusammensetzung von Ablagerungen sei bisher übersehen worden.
Wassermühle
 
Bild: Robert Walter und Dorothy Merritts

Bild oben: Eine typische Wassermühle am Valley Creek in Pennsylvania.
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Historische Aufzeichnungen und aktuelle Daten
Um ihre These zu untermauern, wählten die Forscher grob zwei Untersuchungswege: Zum einen analysierten sie historische Karten und Aufzeichnungen zu Dämmen und Wassermühlen an Flüssen, die in den mittleren Nordatlantik münden und die bei der Bildung des Standard-Modells als Untersuchungsmaterial dienten. Zum anderen wurden zu diesen Flüssen Daten zu Sedimentablagerungen und Fließgeschwindigkeiten erhoben.
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Mehr als 65.000 Wassermühlen
Die Konzentration auf Wassermühlen und Dämme - die zur regelmäßigen Versorgung der Mühle angelegt werden mussten - brachte erstaunliches Zahlenmaterial zu Tage: Die Forscher kamen auf mehr als 65.000 Wassermühlen, die schon 1840 im Osten der USA errichtet worden waren.
Wie Wassermühlen und Dämme die Flüsse veränderten
Den Einfluss beschreiben Walter und Merritts in vier Schritten: Dammkonstruktionen führten zu Überschwemmungen noch nicht besiedelten Umlandes, Flüsse verwandelten sich zu "Rinnsalen", die einzelne Teiche miteinander verbanden. Die Teiche wiederum füllten sich nach und nach mit Sedimenten, weshalb die Dämme mit der Zeit überflutet oder durchbrochen wurden.

Die Flüsse wiederum schnitten sich aufgrund der durch den fehlenden Damm höheren Fließgeschwindigkeit verstärkt in das Umland ein und bildeten die - später als ursprünglich angenommene - Mäanderform aus.
Ein typischer Damm
 
Bild: Robert Walter und Dorothy Merritts

Ein typischer für eine Mühle angelegter Damm am Pickering Creek in Pennsylvania.
Moderner Fluss als Artefakt
"Der moderne, eingeschnittene und mäandernde Fluss ist ein Artefakt, entstanden durch die Manipulationen des Menschen, um die Energie des Wassers zu nutzen", schreiben die Forscher in ihrer Studie.

Ursprünglich hätten Flüsse wie Blutgefäße ausgesehen: zergliedert in viele feine Kanäle.
Geologisches Rätsel gelöst
Laut Kommentator David Montgomery von der Universität Washington könnten Walter und Merritts auch ein Rätsel gelöst haben, vor dem Geologen schon seit längerem stehen: Jüngere Studien haben die These untermauert, dass die Landwirtschaft der Neuzeit die Bodenerosion stark beschleunigte, gleichzeitig gingen aber der Sedimenttransport in die Ozeane zurück - wo ist das Material hingekommen?

"Walter und Merritts zeigen, dass riesige Mengen von den Gebieten um die Flüsse in die Flüsse selbst transportiert wurden, um Dämme zu stabilieren", so Montgomery: "Viel des 'neuenglischen' Bodens vor der Besiedelung könnte in den Dämmen zu finden sein."

Elke Ziegler, science.ORF.at, 18.1.08
->   Robert Walter
->   Dorothy Merritts
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->   Abkommen zum Schutz der Flüsse (12.7.07)
->   Forscher: "Wilde Natur" gibt es nicht mehr (2.7.07)
 
 
 
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01.01.2010