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Historiker Hobsbawm: Europa auf absteigendem Ast  
  Der 90-jährige britische Historiker Eric J. Hobsbawm hat am Montag die höchste Auszeichnung der Stadt Wien, die Ehrenbürgerurkunde, erhalten. Seine Bücher wie "Das Imperiale Zeitalter" und "Das Zeitalter der Extreme" gelten heute als Standardwerke.  
In einem Interview mit der APA spricht der in Alexandria geborene Marxist über sein Selbstverständnis als Historiker, den Zusammenbruch des Kommunismus und seine Kindheit in Wien.

Das wichtigste Arbeitsgebiet für künftige Historiker wird das Umweltproblem sein, meint Hobsbawm. Europäer und Amerikaner sieht er auf dem "absteigenden Ast".
Bild: APA
Eric J. Hobsbawm
Sie haben sich früh zum Marxismus bekannt, aber nie eine Funktion in der britischen kommunistischen Partei bekleidet oder sonst als offizieller Berater gearbeitet. Wie weit sind Historiker Versuchungen seitens der Politik ausgesetzt und wie schwer ist es, Distanz zu halten?

Hobsbawm: Auch auf die Geschichtswissenschaft trifft zu, was Maria Theresia einst über die Schule sagte: Sie ist allzeit ein Politikum. Historiker sind Leute, die im Zeitgeschehen stehen, die engagiert sind - dafür oder dagegen. Der Unterschied besteht bei uns, dass es sozusagen Spiel- oder Zunftregeln gibt, die Politiker und Journalisten nicht immer einsehen wollen.

Der Historiker muss genau unterschieden zwischen seiner Funktion als Wissenschaftler und als politisch Aktiver, das bedeutet aber nicht, dass er gänzlich parteilos, sozusagen frei schwebende Intelligenz ist. Das kann er nicht sein.
Welchen zeitlichen Abstand braucht ein Historiker zum Gegenstand seiner Untersuchung?

Hobsbawm: Das ist schwer zu sagen. Heute ist vielleicht klarer als früher, wie tief einschneidend der Zusammenbruch des alten Europa im Ersten Weltkrieg war. Wir entdecken immer wieder neu, dass die Probleme, die dadurch entstanden, noch nicht gelöst sind - denken Sie nur an den Balkan. Es gibt nie einen Zeitpunkt, zu dem man sagen kann: Jetzt ist sich die Geschichte im Klaren, was das bedeutet hat.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Anno 1920 hätte man vermutlich gesagt - "Jetzt hört's auf mit den Monarchien, das gehört ins graue Mittelalter." Jetzt stellt sich aber heraus, dass viele liberaldemokratische Staaten noch immer Verfassungsmonarchien sind. Für die Zeit nach dem Tod Francos hat man in Spanien einen König gewählt und keinen Präsidenten.

Noch absurder: Auch in ehemaligen Entwicklungsstaaten betritt die Erbherrschaft wieder die politische Bühne.
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Gast der "Wiener Vorlesungen"
Dienstagabend steht Hobsbawm im Festsaal des Rathauses im Mittelpunkt einer "Wiener Vorlesung", in deren Rahmen Gerhard Botz u.a. über Leben und Werk Hobsbawms sprechen werden.
->   Wiener Vorlesungen
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Sie haben Standardwerke über das 20. Jahrhundert geschrieben und meinen, es gehört zur Arbeit des Historikers, sich aufgrund seiner Kenntnisse der Vergangenheit zu fragen, was die Zukunft bringen wird. Nach Ihrer Einschätzung: Was werden spätere Historiker als die wesentlichen Entwicklungen des 21. Jahrhunderts untersuchen?

Hobsbawm: Das Hauptproblem für die Welt wird das Umweltproblem sein. Im Lauf des 21. Jahrhunderts muss das akut werden, es beginnt ja bereits heute. Sowohl wirtschaftlich wie politisch wird sich die Verteilung von Macht und Einfluss in der Welt ungeheuer ändern, demografisch ebenso.

Was das für konkrete Auswirkung haben wird, kann man nicht voraussagen. Sicher ist aber: Die Amerikaner und die Europäer werden verhältnismäßig zu den Absteigern zählen, die Asiaten werden aufsteigen. Das sind keine Prophezeiungen, das sind Entwicklungen, die sich schon heute erkennen lassen.
Werden Religionen im 21. Jahrhundert wieder eine größere Rolle in den politischen Auseinandersetzungen spielen, so wie das heute vielfach den Anschein hat?

Hobsbawm: Das weiß ich nicht. Ich habe den Eindruck, dass Ende des 21. Jahrhunderts Religion weltweit weniger wichtig sein wird als Ende des 20. Jahrhunderts - schon weil das größte Land der Welt, China, praktisch keine Religion hat, und ich auch in Europa keinen besonderen Aufstieg für die Religionen sehe. Im Gegenteil: Die Säkularisierung in Europa schreitet fort.
Wird der fundamentalistische Islam nicht zu einer Radikalisierung auch anderer Religionen führen?

Hobsbawm: Fundamentalistische Tendenzen gibt es in jeder Religion. Die große Frage ist, ob sie Massenphänomene oder die Vorhut für größere Entwicklungen darstellen. Politisch sind die Fundamentalisten natürlich überall ungeheuer aktiv und gut organisiert und daher auch viel prominenter in den Medien, das gilt aber für überall, für die USA ebenso wie für Israel.

Wie weit sich Fundamentalismus auch wirklich mit politischen Ereignissen verbindet, lässt sich nicht generell sagen. Im Augenblick verfälscht das islamische Problem vielleicht etwas die Perspektive.
Sie schreiben in Ihren Erinnerungen, fast jedes Interview mit Ihnen kommt früher oder später zu zwei Fragen: Jazz und Marxismus. Lassen wir aus Zeitgründen den Jazz beiseite und versuchen uns dem anderen Thema aktuell zu nähern: Sind Sie zufrieden mit der Entscheidung des US-Nachrichtenmagazins "Time", den russischen Präsidenten Wladimir Putin zur "Person des Jahres 2007" zu küren?

Hobsbawm: Der Zusammenbruch der Sowjetunion war für die Russen eine Katastrophe. Putin hat sie aus diesen katastrophalen 90er Jahren herausgeholt. Er hat Glück gehabt, aber trotzdem: Er hat den Staat praktisch wieder neu geschaffen. An den Kommunismus ist nicht mehr zu denken. Größere antikapitalistische und emanzipatorische Bewegungen werden sich nicht mehr mit dieser Macht entwickeln können.

Putin möchte sicher eine Art Mischwirtschaft und Mischpolitik in Russland haben. Er will verfassungsmäßig regieren, aber die einzige Art des Regierens, die die russische Tradition kennt, ist das Kommando. Daher bringt der Aufstieg Putins zwar eine große Verbesserung der allgemeinen Lage der Russen, aber auch die Gefahr, dass - wie schon zur Zeit des Zaren und der Sowjets - die Entscheidungen oben getroffen werden.

Das ist mit Demokratie, mit Bürgerrechten, mit der Unabhängigkeit der Justiz nicht so leicht vereinbar. Das ist im Augenblick das Problem in Russland. Wenn ich ein Russe wäre, wäre ich für Putin. Da ich kein Russe bin, kann ich auch auf die negative Seite an ihm aufmerksam machen.
Sie haben etliche Jahre ihrer Kindheit in Wien verbracht. Hat sich das in Ihrem späteren Leben in irgendeiner Weise niedergeschlagen?

Hobsbawm: Doch, vor allem kulturell. Ich bin als Kind zu "Wilhelm Tell" ins Theater gegangen, aber auch zu "Einen Jux will er sich machen" oder zu Ferdinand Raimund. Meine Mutter hat sich "Die letzten Tage der Menschheit" gekauft, sobald sie erschienen waren, die hab ich sofort gelesen. Da muss schon etwas davon hängen geblieben sein ...

Wolfgang Huber-Lang/APA, 20.1.08
->   Über Eric Hobsbawm (ITH)
->   London Review: The Age of EJH
 
 
 
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01.01.2010