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Lawinen im Ameisenvolk  
  Mittelamerikanische Azteca-Ameisen werden regelmäßig von Parasiten heimgesucht, die im Insektenstaat für Massensterben sorgen. US-Biologen zeigen nun: Das Verhalten der Ameisen lässt sich sehr gut mit einer Theorie aus der Lawinenforschung beschreiben.  
Physik des Sandkastens
Jeder Mensch durchlebt irgendwann eine Sandkastenphase, nur endet sie meistens in der Kindheit. Nicht so bei Per Bak, Chao Tang und Kurt Wiesenfeld: Die drei Physiker haben sich auch im Erwachsenenalter intensiv mit Sandhaufen auseinandergesetzt und damit sogar wissenschaftliche Lorbeeren geerntet.

Das kam so: Sandhaufen wachsen, wie jeder aus eigener Erfahrung weiß, nicht gleichmäßig. Lässt man vorsichtig Sandkörner auf die Spitze des Haufens rieseln, gehen von Zeit zu Zeit Lawinen ab - sehr oft kleine, selten aber auch ganz große Lawinen. Bak, Tang und Wiesenfeld wiesen in den 80er-Jahren nach, dass diese spontanen Rutschungen mit einem erstaunlich einfachen Computermodell (sogenannten zellulären Automaten) erklärt werden können.

Und sie zeigten, dass Sandhaufen Stellvertreter eines weit verbreiteten Naturprinzips sind. Mittlerweile wurde diese These vielfach bestätigt - das Verhalten von Sandhaufen, Erdbeben, Stromausfällen und Waldbränden lässt sich mit der gleichen Theorie beschreiben. "Selbstorganisierte Kritikalität" lautet heute der offizielle - und etwas sperrige - Name für die Tatsache, dass das kritische Verhalten vieler Systeme von deren innerer Architektur abhängt. Äußere Ursachen spielen hingegen eine oft untergeordnete Rolle.
Studie über Plantagen-Ameisen
 
Bild: John Vandermeer

Eine recht anschauliches Beispiel für dieses Prinzip haben nun Forscher um John Vandermeer von der University of Michigan abgeliefert: Die US-Biologen widmen sich in ihrer neuesten Studie einer Ameisenart namens Azteca instabilis (Bild oben), die in den mittelamerikanischen Tropen lebt. Recht wohl fühlen sich die Azteca-Ameisen etwa in Kaffeeplantagen, die für ökologische Studien insofern ein Glücksfall sind, weil sie kontrollierte Rahmenbedingungen bieten. Die Kaffeesträucher und dazwischen gepflanzten Schattenbäume (auf denen die Ameisen wohnen) sind nämlich streng geometrisch angeordnet und auch in botanischer Hinsicht fast ident, wie es sich eben für eine industrielle Kulturlandschaft gehört.
Cluster statt Zufall
Doch trotz der ökologischen Monotonie in Plantagen ist die Verteilung der Ameisen keineswegs zufällig, wie Vandermeer und seine Kollegen nun in der Zeitschrift "Nature" (Bd. 451, S. 457) berichten: Die Insekten neigen offenbar zur Haufenbildung - Ameisenkolonien liegen in kleinen und großen Gruppen dicht beieinander, dazwischen herrscht die große Leere.

"Die Ameisen besiedeln lediglich drei Prozent der Bäume. Aber wenn man sie findet, dann immer in Klumpen", sagt Vandermeer. Und fügt hinzu: "Normalerweise würde man bei einem solchen Verbreitungsmuster vermuten, dass das Habitat dafür verantwortlich ist." Mangels botanischer Variation fällt die Standarderklärung durch die Umweltbedingungen allerdings flach.
Selbstorganisation im Ameisenstaat
Man kann die Sache auch anders, nämlich quasi von innen erklären: Erreichen die Kolonien der Azteca-Ameisen eine bestimmte Größe, wandert ein Teil des Volkes aus und gründet meist in unmittelbarer Nähe Satellitenstaaten. So entstehen mitunter umfangreiche Kolonien-Cluster, wo parasitische Fliegen regelmäßig für Massensterben sorgen: Sie legen ihre Eier auf das Hinterteil ihrer Wirte, die Fliegenlarven wandern dann in den Kopf der Ameisen und entwickeln sich dort so prächtig, dass letzterer früher oder später einfach abfällt.

Dass derlei Dekapitationen nicht zum Wachstum der Kolonie beitragen ist klar, entscheidend dürfte allerdings der Umstand sein, dass sich die Fliegen besonders in Ballungsräumen bestens vermehren. In dünn besiedelten Regionen sind sie indes bei weitem nicht so gefährlich. "Eigentlich ist es die Fliege, die das räumliche Verteilungsmuster der Ameise bestimmt", sagt Co-Autorin Ivette Perfecto, die sich mit ihren Kollegen nun auf die Spuren der Sandkastentheoretiker Bak, Tang und Wiesenfeld begeben hat.

Die US-Biologen reproduzierten das beobachtete Muster mit einem Computermodell, wie es bereits für das Lawinenproblem verwendet wurde, und wiesen nach: Auch im Ameisenvolk lässt sich der Fingerabdruck der Selbstorganisation nachweisen. Die Selbstorganisation verstehen müssen die Insekten natürlich nicht - Sandhaufen wissen schließlich auch nichts davon.

Robert Czepel, science.ORF.at, 24.1.08
->   John Vandermeer
->   Ivette Perfecto
->   Selbstorganisierte Kritikalität - Wikipedia
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01.01.2010