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Auf der Couch: Hitchcock und seine Frauenbilder  
  Motive der Psychoanalyse spielen bei zahlreichen Filmen von Alfred Hitchcock eine Hauptrolle. Die Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey ist fasziniert davon, wie der britische Regisseur das "neurotische Verhältnis der Geschlechter" zeigt und mit der Struktur des Kinos zu verbinden weiß. Bei der Konstruktion von Frauenbildern gibt es auffallende Übereinstimmungen zwischen Hitchcocks Leben und seinen Filmen, meint Laura Mulvey.  
Bild: Birkbeck University of London
Laura Mulvey
In manchen Filmen verwies Hitchcock explizit auf die Psychoanalyse - etwa in "Ich kämpfe um Dich" von 1945, in dem die beiden Hauptdarsteller Gregory Peck und Ingrid Bergmann Psychoanalytiker gaben. Auch die Mutterfigur in "Psycho" und das Motiv der Höhenangst in "Vertigo" scheinen wie aus einem Lehrbuch abgeschrieben.

Obwohl er selbst vermutlich keine Werke von Freud gelesen hat, war das Umfeld Hitchcocks in den 1940er und 1950er Jahren in den USA stark psychoanalytisch geprägt. "In der Zeit wurden die Ideen der Psychoanalyse popularisiert. Sein Produzent David O. Selznick war selbst in Analyse und hat seine Erfahrungen eingebracht", erzählt Mulvey gegenüber science.ORF.at.
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Laura Mulvey war vor kurzem Gast in Wien und hielt bei einer Kooperationsveranstaltung von Sigmund-Freud-Museum und Österreichischem Filmmuseum den Vortrag "Rereading the Uncanny: Automata, the Cinema and Hitchcock's Female Stars".
->   Sigmund-Freud-Museum
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Von der Bergmann zur Kelly
Bild: EPA
Alfred Hitchcock
Die Filmwissenschaftlerin von der Birkbeck University of London interessiert sich vor allem für die Konstruktion der Frauenbilder in den Filmen von Hitchcock. Eine zentrale Größe war die "kühle Blondine, die alles machen würde, wenn man mit ihr alleine im Dunkeln ist, wie es Hitchcock selbst gesagt hat".

Diese Rolle nahm zuerst Ingrid Bergmann ein, deren Image aufgrund vorangegangener Filme aber nicht erst konstruiert werden musste. Bei Grace Kelly war das anders.

"Mit Hilfe der berühmten MGM-Designerin Edith Heath hat Hitchcock Grace Kelly zur glamourösesten aller glamourösen Stars gemacht, nicht unbedingt sexy, aber sehr modebewusst und zugleich verführerisch", erklärt Mulvey.
In Vertigo spiegelte sich das Leid des Regisseurs
Nachdem Kelly bei den Dreharbeiten 1955 zu "Über den Dächern von Nizza" Prinz Rainier von Monaco kennengelernt hatte, machte sie keine weiteren Filme - für Hitchcock riss dies "ein tiefes Loch in seine Konstruktion von Frauenbildern. Er hat gekämpft dafür, dies wieder zu füllen, seinen nächsten Film 'Vertigo' kann man auch als Kommentar dazu verstehen".

In "Vertigo - Aus dem Reich der Toten" versucht der Protagonist Scottie, eine junge Frau namens Judie nach dem Vorbild seiner geliebten Madeleine zu formen - diese hatte vermeintlich Selbstmord begangen.
Obsessive Beziehungen zu seinen Stars
Bild: dpa
Kim Novak, die Madeleine
und Judie aus "Vertigo"
Ursprünglich wünschte sich Hitchcock Vera Miles als Hauptdarstellerin für den Film. Mit ihr hatte er schon bei "Der falsche Mann" zusammengearbeitet und sie planmäßig zum Star aufgebaut.

"Hitchcock hat ihr eigene Kostüme und Kleider machen lassen, nicht nur für die Filme, sondern auch für den Alltag. Es gab Gerüchte, dass Miles diese Obsessionen zunehmend als unangenehm empfunden und sich in eine Schwangerschaft 'geflüchtet' hat, um 'Vertigo' nicht drehen zu müssen."

Bei Tippi Hedren, der Hauptdarstellerin von "Die Vögel", hat sich das wiederholt. Auch ihr stellte Hitchcock eine komplette Garderobe zur Verfügung und formte sie zum gewünschten blonden Star. Auch sie, die laut Mulvey die "perfekte Starkonstruktion" war, ist letztlich vor ihm geflüchtet.
Freuds Unheimliches: Tod und Mutter
Einen Schlüssel zum Verständnis dieser Konstruktion von Frauenbildern sieht Mulvey in dem kleinen Aufsatz "Das Unheimliche", den Sigmund Freud 1919 geschrieben hat. Darin betont er die gemeinsame Quelle von Heimlichem und Unheimlichem. Er schreibt, dass "das Unheimliche das Heimliche-Heimische ist, das eine Verdrängung erfahren hat und aus ihr wiedergekehrt ist".

Für Mulvey hat das Unheimliche bei Freud zwei Aspekte: Zum einen liegt seine Wurzel im Tod, den der menschliche Geist nicht fassen kann und gegen den er sich - etwa in der Idee der Wiederauferstehung des Körpers in den Religionen - versucht zu wappnen.

"Zum anderen liegt die Quelle von Unheimlichkeit für Freud im Körper der Mutter, diese erste Heimat jedes Menschen kann zu einem Symbol werden für Angst und Ekel. Für Freud kann Beginn und Ende des Lebens unheimlich sein."
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Radio-Hinweis
Auch die Ö1 Dimensionen widmen sich dem Verhältnis von Freud und Hitchcock: Freitag, 1.2, 19.05 Uhr, Radio Österreich 1.
->   Ö1 Dimensionen
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Kastrationsangst im "Sandmann"
In seiner Analyse über die Ursachen des Unheimlichen geht Freud auf ein Meisterwerk des Genres ein - E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann". In dem romantischen Schauerroman wird die Geschichte des jungen Nathanael erzählt, der in der Kindheit den Tod seines Vaters miterleben musste und Zeit seines Lebens unter einem Trauma leidet - nicht zuletzt unter der Angst, dass ihm der "Sandmann" die Augen ausreißt.

Für Freud ist dies ein deutlicher Hinweis auf eine tief sitzende Kastrationsangst Nathanaels, die auch bei der berühmten Olympia-Episode entscheidend ist: Olympia ist ein wunderschöner weiblicher Körper, in den sich Nathanael verliebt, der sich nach einigen Wirrnissen aber leider als leblose Puppe erweist.
->   Der Sandmann (Projekt Gutenberg)
Aus Wirklichkeit wird Illusion - und Obsession
Mulvey betont, wie die Quelle von Kastrationsangst auch eine männliche Angst sein kann vor "kastrierten", weiblichen Körpern. Durch Verschiebungen im Unbewussten kann dies zu Bildern führen, in denen der weibliche Körper verunstaltet und ausgelöscht wird. Und das verweist zurück auf Hitchcock.

Nathanael hatte Olympia schon länger gesehen, verliebt hat er sich erst, als er sie durch ein spezielles Fernglas erblickt. "Die Wirklichkeit wird ausgeschnitten und in Illusion verwandelt - und das wird zur Quelle seiner Obsession. Das verbinde ich mit der Faszination, die Kino für uns alle hat, die wir Kino mögen."
->   Audio: Laura Mulvey über das Verhältnis Hitchcock-Freud
Die Unwirklichkeit der perfekten Oberfläche
Für Mulvey hat die Konstruktion von Bildern der Weiblichkeit, die Hitchcock vorgenommen hat, sehr stark mit den Bildern im Kino an sich zu tun: "Bilder, die aus der Substanz der Leinwand selbst hervortreten, geisterhaft verwandelt und in gewisser Weise auch unwirklich sind. Dieser Unwirklichkeit begegnen wir in vielen Filmen von Hitchcock - am prominentesten wahrscheinlich in Vertigo."

Hitchcocks Sinn für die Unwirklichkeit zeigt sich etwa in der perfekten Oberfläche der Vertigo-Protagonistin Kim Novak. Darunter verbirgt sich eine starke Unsicherheit, die in der Geschichte durch ihre Doppelrolle erklärt wird - Madeleine hatte nämlich gar nicht Selbstmord begangen und tritt als Judy wieder in das Leben von Scottie.

"Ihre wunderschöne und verführerische Oberfläche betrügt den männlichen Hauptdarsteller. Zugleich passt der Sinn für die schöne Oberfläche perfekt zu der Neurose des Helden", meint Mulvey.
Vertigo als Musterbeispiel
Hitchcock arbeite mit Maskeraden perfekter Frauen, neben das wunderschöne Trugbild der Madeleine, in die sich der Held verliebt, stellt er das "ganz normale" Mädchen Judie. Diese versucht dem Transformationsprozess zwar zu entkommen, aber letztlich vergeblich.

"Vertigo" ist für Mulvey nach wie vor "ein außergewöhnliches Stück filmischer Obsession", ein Musterbeispiel für die "Transformation der Figur der Frau in eine neue Obsession für das Kino".

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 1.2.08
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Buchhinweis
In dem Buch "Psyche im Kino. Sigmund Freud und der Film" (FAA 2006) hat Laura Mulvey den Text "Death Drive. Alfred Hitchcocks 'Psycho' und Freuds Konzepte des Todestriebs und des Unheimlichen" geschrieben.
->   Mehr über das Buch
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->   Österreichisches Filmmuseum
->   Laura Mulvey (Wikipedia)
->   Laura Mulvey, Birkbeck University of London
 
 
 
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01.01.2010