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Polen 1968: Welle des Antisemitismus  
  Auch in Polen haben sich 1968 massive gesellschaftliche Umwälzungen ereignet. Künstler und Stundenten protestierten, das Regime antwortete mit einer antisemitischen Hetzkampagne, die zu einem Exodus von Intellektuellen führte.  
Haupt- und Nebenschauplätze
1968 war ein bewegtes Jahr. Im April wurde Martin Luther King in Tennessee ermordet und der deutsche Studentenführer Rudi Dutschke durch ein Attentat lebensgefährlich verletzt. Im Mai gipfelten die Proteste französischer Studenten in der Besetzung der Pariser Sorbonne, einen Monat später wurde in den USA Robert F. Kennedy, aussichtsreicher Kandidat für die Präsidentschaftswahlen, ermordet. Im August marschierten Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei ein und bereiteten dem Prager Frühling ein gewaltsames Ende.

Die Ereignisse in Polen indes spielen in der Weltchronik des Jahres 68 keine so prominente Rolle - obwohl es auch hier eine liberale Studentenbewegung gab, die sich durch Streiks an den Hochschulen des Landes Gehör verschaffen wollte.
Studentenproteste
Anlass für die Protestaktionen der Studentenschaft war ein im Jänner 68 erlassenes Aufführungsverbot für das Drama "Die Totenfeier" von Adam Mickiewicz - wohl deshalb, weil
es aufgrund seines russlandkritischen Untertones in Studentenkreisen zum Kultstück geworden war. Die Studenten starteten daraufhin eine an den Sejm, das polnische Unterhaus, gerichteten Petition, die mehrere tausend Personen unterzeichneten.

"Zur selben Zeit tauchten zahlreiche Flugblätter antisemitischen Ursprungs auf. In ihnen wurde gegen den 'übermächtigen Einfluss' von Zionisten und die mit ihnen verbundenen Intellektuellen Stimmung gemacht", erinnert sich der polnische Literaturwissenschaftler Karol Sauerland in einem Text für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (Ausgabe vom 15.2.).

"So hieß es in einem Flugblatt: Michnik, Blumsztajn und Szlajfer können und werden uns die patriotische Tradition unseres Volkes nicht lehren, was im Klartext heißt: Diese Juden können uns Polen nur in eine Sackgasse führen."
Antwort: Antisemitische Kampagne
Als auch danach Künstler gegen die Kulturpolitik des Regimes und Studenten gegen das brutale Vorgehen der Ordnungskräfte bei Versammlungen protestierten, "leiteten die Machthaber eine antisemitische Kampagne von einem Ausmaß ein, wie sie in einem kommunistisch regierten Land bis dahin unbekannt war," so Sauerland.
Polen: Publikation sorgt für Streit
Sauerlands Text in der FAZ ist nicht nur im Kontext des hiesigen Jahres der Zeitgeschichte 2008 zu sehen, er nimmt auch auf eine äußerst erregte Debatte in Polen Bezug: Dort wird nämlich seit einem Monat heftig über antisemitische Strömungen in der Nachkriegszeit gestritten.

Auslöser dafür ist das Buch "Angst. Antisemitismus in Polen nach dem Krieg" von Jan Tomasz Gross, das Anfang des Jahres in polnischer Sprache erschienen ist. Der US-amerikanische Soziologe, selbst jüdisch-polnischer Herkunft, arbeitet darin einige dunkle Kapitel seiner ehemaligen Landsleute auf und ventiliert die These, dass die Ermordung und Vertreibung von Juden vor allem aus Angst passiert sei.

Und zwar in zweierlei Hinsicht: aus Angst davor, für den Holocaust des Nazi-Regimes mitverantwortlich gemacht zu werden, und aus Angst davor, die ehemalige Besitztümer von Juden zurückgeben zu müssen, die sich viele Polen während der Besatzungszeit angeeignet hatten.
Erregung über "Schmähschrift"
Die Reaktionen fielen äußerst unterschiedlich aus. Der ehemalige polnische Regimekritiker Adam Michnik, seit der demokratischen Wende Chefredakteur der größten polnischen Qualitätszeitung "Gazeta Wyborcza", dankte Gross demonstrativ für seine Publikation.

Der frühere polnische Regierungschef Jaroslaw Kaczynski hingegen sah darin eine "Schmähschrift" und bescheinigte dem Autor eine "manisch anti-polnische Haltung". Selbst die polnische Staatsanwaltschaft in Krakau wurde aktiv. Sie prüfte, ob es sich bei dem Text nicht um eine "Verleumdung der polnischen Nation" handle - und stellte die Prüfung im Februar wieder ein.
Geistiger Aderlass
Wie auch immer die polnische Binnendebatte über die adäquate Deutung von Gross' Studie ausgehen mag, in Bezug auf das Jahr 68 sind die Fakten recht klar. Damals fand ein regelrechter Exodus polnischer Intellektueller statt, wie etwa Sauerland in seinem Text für die FAZ beschreibt: Unter ihnen befanden sich, neben Gross selbst, beispielsweise der Literaturkritiker Roman Karst, der Germanist Emil Adler sowie die Philosophen Bronislaw Baczko und Leszek Kolakowski.

"Beide hatten, so wie der Soziologe Zygmunt Bauman, der Ökonom Wlodzimierz Brus und andere Hochschullehrer ihre Arbeitsstelle an der Warschauer Universität verloren." Die Stellen wurden mit den sogenannten Märzdozenten, nichthabilitierten Akademikern, die sich in Sachen antisemitischer Hetze besonders hervorgetan hatten, nachbesetzt.

Sauerland: "Über ihre Taten beziehungsweise Untaten herrscht Stillschweigen. Heute sind diese Leute zumeist pensioniert oder bereits verstorben, jedoch ihr Geist lebt in vielem weiter."

Robert Czepel, science.ORF.at, 18.2.08
->   Jan Tomasz Gross - Wikipedia
->   Karol Sauerland - Perlentaucher
->   FAZ
 
 
 
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01.01.2010