News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit 
 
Phantomschmerz: Bein-Illusion wirkt sich im Gehirn aus  
  Menschen, die ein Bein oder einen Arm verloren haben, leiden meist ihr ganzes Leben an Phantomschmerzen. Bisher setzte man hauptsächlich Medikamente ein, um die Schmerzen zu reduzieren. Am Wiener Allgemeinen Krankenhaus (AKH) konzentriert man sich in einer Studie auf einen nicht-medikamentösen Ansatz: Durch einen Spiegel wird die Illusion hervorgerufen, dass die Extremität noch vorhanden ist.  
Das Gehirn "glaubt" diese Illusion und reagiert darauf durch eine Aktivierung jener Zellen, die für die Koordination der verlorenen Gliedmaße zuständig sind. Auch wenn sich die Aktivitätsmuster im Gehirn durch die Amputation bereits fehlerhaft verschoben haben, führt die Spiegel-Illusion zu einer Reorganisation der Zellen.

Diese Annäherung an den Zustand vor der Amputation wäre maßgeblich für die Verringerung der Phantomschmerzen, so die These der Mediziner. Das AKH sucht noch nach Patienten, die an der Studie teilnehmen wollen.
"Alles spielt sich oben ab"
"Es ist, als ob sich alles im Gehirn abspielen würde", fasst Richard Schicho im Gespräch mit science.ORF.at seine Erfahrungen mit der Spiegeltherapie zusammen. Damit hat der 61-jährige Patient, dem bereits 2001 das Bein abgenommen wurde, die Schmerzwahrnehmung auf den Punkt gebracht:

Denn Schmerzen werden zur Wahrnehmung immer ins Gehirn geleitet, dort wird entschieden, wie wir darauf reagieren. Also auch wenn das Fußgelenk schmerzt, passiert die Verarbeitung dieses Reizes im Gehirn.
Medikamente ohne nachhaltige Wirkung
Bild: science.ORF.at
Daraus lässt sich auch das Phänomen des Phantomschmerzes erklären: Obwohl eine verlorene Extremität nicht mehr wehtun kann, erzeugt das Gehirn den Eindruck, dass das Bein oder der Arm noch da ist und eine dortige Wunde noch immer schmerzt.

Oder in den Worten von Richard Schicho: "Ich konnte sogar die Zehen des amputierten Beins spüren, hätte auftreten wollen. Und natürlich spürte ich auch die Wunde" - sie war durch die dreimalige Entnahme eines Stücks Beinvene für Bypass-Operationen entstanden.

Therapiert wurde der Phantomschmerz bei Herrn Schicho "klassisch" durch die Gabe von Medikamenten - ohne nachhaltige Besserung. Nun nimmt er seit zwei Wochen an der Spiegeltherapie-Studie im AKH teil und ist vom Effekt überzeugt: "Ich nehme seit mehreren Tagen keine Pulverln gegen den Phantomschmerz mehr und bin beinahe schmerzfrei."
Bewegungen vor dem Spiegel
 
Bild: science.ORF.at

Die Spiegeltherapie läuft relativ einfach ab: Der Patient stellt zwischen seine Beine einen Spiegel. Dadurch wird der Stumpf verdeckt, im Spiegel erscheint ein zweites Bein (siehe Bild oben). Für den Patienten entsteht der Eindruck, dass er über zwei gesunde Beine verfügt. Gemeinsam mit einer Physiotherapeutin absolviert der Patient eine Reihe von Übungen mit der gesunden Gliedmaße und beobachtet das Spiegelbild (siehe Videos unten).
->   Video 1: Seitwärtsdrehen des Fußes vor dem Spiegel
->   Video 2: Abbiegen des Fußes vor dem Spiegel
Auswirkungen im Gehirn dokumentiert
Dass die Spiegeltherapie Phantomschmerzen lindern kann, ist prinzipiell schon bekannt. Die Mediziner um Studienleiter Stefan Seidel konnten aber zeigen, dass die Normalisierung der Aktivitätszentren im Gehirn maßgeblich zur Schmerzlinderung beiträgt.
...
Wie die Therapie abläuft
Die amputierten Personen absolvieren drei Wochen lang vier halbstündige Spiegeltherapieeinheiten pro Woche. Zusätzlich müssen die Probanden ein Schmerztagebuch ab zwei Wochen vor Therapiebeginn führen und zu einer Befragung hinsichtlich ihres Wohlbefindens bereit sein. Die Studie ist ein Gemeinschaftswerk der Universitätsklinik für Neurologie und jener für Radiodiagnostik. Patienten, die an der Spiegeltherapie teilnehmen möchten, können direkt mit dem Studienleiter Stefan Seidel (stefan.seidel(at)meduniwien.ac.at, T. 01-40400 3145) Kontakt aufnehmen.
...
Magnetresonanz-Aufnahmen
 
Bild: AKH Wien

Der hier mit fMRI beobachtete Patient musste sich Bewegungen mit seinem amputierten Bein vorstellen. Die Aufnahmen wurden vor der Spiegeltherapie, unmittelbar nach Ende der Behandlung und nach weiteren drei Wochen ohne Therapie gemacht. Ganz links sieht man, dass die Aktivierung relativ tief im Gehirn stattfindet.

"Das mit dem Bein korrespondierende Areal wäre eigentlich weiter oben zu finden, hier hat bereits eine Verschiebung der neuronalen Aktivität stattgefunden", erklärt der Radiologe Gregor Kasprian. Unmittelbar nach der Therapie kann man erkennen, dass sich das Aktivitätszentrum der richtigen Region angenähert hat (Bild in der Mitte). Vergehen weitere drei Wochen ohne Therapie, droht sich das Aktivierungsareal wieder zurückzuverlagern (Bild ganz rechts).
...
Gefährliche Vereinnahmungen
Besonders gefährlich sind diese Verschiebungen, weil die frei werdenden Zellen von Nachbarregionen "annektiert" werden können. So weiß man aus früheren Studien, dass etwa die für einen Arm zuständigen Gehirnzellen vom daneben liegenden Areal, das Reize vom Mund koordiniert, vereinnahmt wurden. Man nimmt an, dass sich durch diese Verformungen der Phantomschmerz noch einmal intensivieren kann.
->   Studie aus "Nature Reviews Neuroscience" zum Thema
...
Individuelle Erleichterung dokumentiert
"Ich spüre den Phantomschmerz jetzt weniger häufiger und weniger intensiv", schildert der beinamputierte Patient Richard Schicho die Effekte der Spiegeltherapie. Die verschobenen Aktivitätsmuster im Gehirn seien offenbar ein entscheidender Faktor bei der Entstehung von Phantomschmerzen, zieht Neurologe Stefan Seidel eine Zwischenbilanz.

Die individuelle Erleichterung, die die Patienten spüren, konnten im Rahmen der Studie durch die Magnetresonanzaufnahmen dokumentiert werden. Besonders attraktiv sei die Spiegeltherapie, weil es sich um eine nichtmedikamentöse Therapie handle, so Seidel - und weil die Patienten auch ohne Begleitung durch eine Physiotherapeutin mit den Übungen weitermachen können.

"Ich werde sicher weiter üben", betont denn auch Richard Schicho: "Das einzige, was ich brauche, ist ein Spiegel. Und der wird sich organisieren lassen."

Elke Ziegler, science.ORF.at, 22.2.08
->   Universitätsklinik für Neurologie (Medizinische Uni Wien)
->   Universitätsklinik für Radiodiagnostik (Medizinische Uni Wien)
Mehr zum Thema in science.ORF.at:
->   Spiegeltherapie hilft bei Phantomschmerzen (23.11.07)
->   Bessere Schlaganfall- und Phantomschmerztherapie (27.1.04)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010