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Forscherin: Autisten denken animalisch  
  Die US-Forscherin Temple Grandin sorgt mit einer ungewöhnliche Hypothese für Aufsehen. Sie meint, dass die Gedankenwelt von Autisten derjenigen von Tieren ähnlich sei. Bemerkenswert dabei: Grandin hat die These anhand ihrer eigenen Erfahrungen entwickelt. Sie ist nämlich selbst an Autismus erkrankt.  
Unikarriere trotz Autismus
Als Temple Grandin drei Jahre alt war, konnte sie nicht sprechen. Sie sei verhaltensauffällig und habe offenbar neurologische Schäden, meinten die Ärzte und empfahlen, das Kind in ein Heim zu geben. Die Eltern setzten stattdessen auf intensive Förderung und schickten ihre Tochter zur Schule und später auf die Universität.

Heute lehrt Grandin selbst an der Colorado State University im Fach Tierwissenschaft, eine gewisse Distanz zur Sprache ist ihr dennoch geblieben. "Ich denke in Bildern. Meine Muttersprache ist eigentlich meine Zweitsprache", betont sie. Erst als Erwachsene erfuhr Grandin den Grund für ihre Sprachprobleme, ihre soziale Scheu, ihr Anderssein. Man diagnostizierte bei ihr das Asperger-Syndrom, eine milde Form des Autismus.
Empathie für Tiere
Grandin ist nicht nur deshalb interessant, weil sie beweist, dass die Diagnose "Autismus" keineswegs zu einem Leben in Abhängigkeit und sozialer Isolation führen muss. Bemerkenswert ist überdies, dass ihre autistische Wahrnehmung die eigene wissenschaftliche Arbeit maßgeblich prägt.

Da ist zum einen die "hug machine" - eine Konstruktion von mit Polstern überzogenen, beweglichen Platten, die sie zunächst zur Behandlung ihrer eigenen Berührungsängste entworfen hat. Die Maschine wird heute allgemein in der Autismus-Therapie eingesetzt.

Da ist zum anderen ihr Engagement für eine Reform der Nutztierhaltung, bei dem sie einen recht ungewöhnlichen Ansatz wählt: Grandin behauptet, dass sie aufgrund ihrer Krankheit besser abschätzen kann, wie Tiere empfinden und wovor sie Angst haben, in gewisser Weise denke sie selbst wie ein Tier, meint sie. "The Woman Who Thinks Like A Cow" lautet denn auch der Titel einer TV-Dokumentation über die Tierwissenschaftlerin.
->   The Woman Who Thinks Like A Cow
Ein Fluss von Bildern
"Als Mensch mit Autismus bestehen für mich die Gedanken aus fotorealistischen Bildern. [...] Wenn man mir ein Stichwort gibt, 'Erdnuss' etwa, dann sehe ich eine Serie von Bildern, als erstes das Logo von Planter's Peanut, dann ein Restaurant, das Erdnussgerichte serviert, dann einen Sack voller Erdnüsse in einem Flugzeug", schreibt Grandin. "Die hauptsächliche Ähnlichkeit zwischen tierischem und meinem Denken ist die Abwesenheit von verbaler Sprache."

Diesen Ansatz hat die US-Forscherin in ihrem Buch "Animals in translation" zu der These entwickelt, dass Autismus dem tierischen Denken grundsätzlich verwandt sei. Für Tiere und Autisten besteht Grandin zufolge die Welt aus einem ungefilterten Strom von Sinnesempfindungen, der auch noch so unwichtige Kleinigkeiten berücksichtigt. Das Denken "normaler" Menschen sei hingegen stärker regelorientiert - es ziele eher auf allgemein gültige Konzepte ab, sei dafür wesentlich detailärmer.
Inselbegabungen bei Tieren und Menschen
Auf den ersten Blick scheint das tatsächlich so zu sein. Autisten haben oft Inselbegabungen, können etwa (ähnlich wie Mozart im Film "Amadeus") komplizierte Melodien nach nur einmaligem Hören wiedergeben. Andere "austistic savants" sind mathematisch oder zeichnerisch hochbegabt und übertreffen ihre gesunden Mitmenschen in diesen Fächern bei weitem.

Auch Tiere zeigen oft erstaunliche Fähigkeiten in Sachen Merkfähigkeit. Der Kiefernhäher beispielsweise, ein Vogel aus der Familie der Raben, legt pro Saison tausende Nahrungsdepots an - und findet sie Studien zufolge auch problemlos wieder. Von australischen Elstern wird wiederum berichtet, dass sie komplexe Gesänge anderer Vogelarten perfekt imitieren - auch dann, wenn es ihnen per Tonband nur einmal vorgespielt wurde.
Gegenargument: Keine Defizite im Tierreich
Andererseits: Genügen solche Beispiele, um hier eine tiefere Verwandtschaft zwischen Autismus und tierischer Kognition zu vermuten? Der italienische Kognitionsforscher Giorgio Vallortigara ist da eher skeptisch.

Er hat nun gemeinsam mit fünf weiteren Kollegen eine Analyse der Grandinschen Theorie veröffentlicht und kommt zu dem Schluss: Man kann die zum Teil eindrucksvollen Geistesleistungen von Tieren auch als schlichte Anpassung an die besonderen Lebensumstände erklären, mit Quasi-Autismus habe das nichts zu tun (PLoS Biology, Bd. 6, e42).

Vallortigaras Hauptargument lautet folgendermaßen: Autisten müssen ihre Inselbegabungen in der Regel mit Defiziten in anderen Bereichen bezahlen, sie sind oft sprachlich oder im konzeptionellen Denken gehemmt. Beispielsweise gibt es in der Literatur die Anekdote eines autistischen Jungen, der den Begriff "Giraffe" anhand der typischen Fellzeichnung erlernt hat, den langen Hals und die Körperform des Tieres aber völlig außer Acht ließ. Daher war für ihn auch ein Leopard eine "Giraffe".

Vallortigara indes sieht keine Hinweise, dass so etwas auch im Tierreich verbreitet sein soll, weder beim Kiefernhäher, noch bei anderen Spezies. Man könnte es auch so ausdrücken: Die Vermutung, dass ein Leopard eine Giraffe ist, dürfte in der freien Wildbahn recht schnell widerlegt werden - und zwar vom Leoparden selbst.
Dysbalance der Hirnhälften
Der italienische Kognitionsforscher versucht daher die biologischen Fakten anders einzuordnen. Er geht davon aus, dass Autismus nichts mit "tierischem" Denken zu tun hat, sondern mit einem Ungleichgewicht in der Aktivität der beiden Hirnhälften. Vallortigara beruft sich dabei auf Versuche des australischen Hirnforschers Allan Snyder, der das Savant-Syndrom - zumindest ansatzweise - künstlich erzeugt hat.

Snyder hemmte den linken Temporallappen von gesunden Probanden und ließ sie dann einige Zeichen- und Lesetests absolvieren. Das Ergebnis: Mit der Neuro-Bremse in der linken Hemisphäre änderte sich nicht nur der Zeichenstil der Probanden, einige von ihnen waren auch deutlich besser, wenn es um das Korrekturlesen von Texten ging.
Animalisches Denken freigelegt
Temple Grandin, die in "PLoS Biology" eine Entgegnung auf den Artikel von Vallortigara und Co. veröffentlicht hat, gibt sich allerdings nicht so schnell geschlagen. Sie zitiert den US-Forscher Bruce Miller, der bei Demenzpatienten etwas Ähnliches festgestellt hat. Hier hat die Zerstörung von (linksseitigem) Hirngewebe plötzlich künstlerische und musikalische Begabungen erzeugt, gerade so, als wären sie durch den Kontrollverlust der linken Hemisphäre demaskiert worden.

Genau das ist Grandin zufolge auch geschehen. Sie betrachtet das jedoch als Bestätigung ihrer Hypothese: Die Demenz habe etwas freigelegt, das Autisten immer schon besessen haben: "Das an den Sinnen orientierte, detaillierte Denken, das wir mit den Tieren teilen."

Robert Czepel, science.ORF.at, 20.2.08
->   Temple Grandin
->   Temple Grandin - Wikipedia
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01.01.2010