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Mehr Aufmerksamkeit für die Kategorie des "Raums"  
  Der "Spatial Turn" wurde in jüngster Zeit zu einem neuen Schlagwort in den Kulturwissenschaften. Vereinfachend gesagt, soll der "Raum" als analytische Kategorie mehr Aufmerksamkeit bekommen. Wie stehen globalisierte Räume in Beziehung zu digitalisierten Medien? Welche Räume müssen aufgebaut werden, damit Kommunikation funktioniert? Der Medienwissenschaftler Thomas Schindl ging in einem Buch dem "Spatial Turn" auf den Grund.  
Die Frage nach dem Raum
von Thomas Schindl

Seit geraumer Zeit ist in den Human- und Kulturwissenschaften ein neues Interesse für die Frage nach der grundlegenden Räumlichkeit menschlicher Existenz und gesellschaftlichen Zusammenlebens entstanden. In mehreren Anläufen erfolgten hier Versuche, den Raumbegriff wieder verstärkt im wissenschaftlichen Instrumentarium zu verankern.
Unterschiedliche Richtungen
Bislang gehen diese Versuche allerdings in ganz verschiedene Richtungen: Zivilisationen, Kulturen und Gesellschaften haben nicht nur eine Geschichte, sondern auch ihre eigene Geographie, die es nachzuzeichnen gilt. Außerdem werden Landkarten, Bilder und Architektur als kulturelle Formen der Repräsentation von Räumlichkeit vermehrt selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen.

Und unter dem Begriff der "Topologie" entsteht gerade ein neuer Ansatz philosophischer Grundlagenforschung, der die Bedeutung von Orten und räumlichen Relationen bei der Beschreibung von Information, Kognition und Existenz berücksichtig.
Zeit wichtiger als Raum
Trotz aller Unterschiede lassen sich diese Aspekte auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Aus verschiedenen Gründen ist der Konstruktion von Zeit und Geschichte regelmäßig mehr Interesse und Verständnis von Seiten der Humanwissenschaften entgegen gebracht worden als derjenigen von Raum und Geographie.

Diese Ungleichheit auszubügeln, ist das eigentliche Anliegen dessen, was - in Anlehnung an den "linguistic turn" und den "cultural turn" - gegenwärtig als "spatial turn" bezeichnet wird.
Räume der Kommunikation
Der Beitrag, den Medientheorien hier leisten können, besteht nun gerade darin, die Räumlichkeit von Kommunikation und Medialität selbst ins Gedächtnis zu rufen. Es ist allerdings nicht der reale oder idealisierte "Ort der Medien", der hier zur Diskussion steht.

Gemeint ist damit weder die gesellschaftliche "Mitte" von Diskurs und Konsens (lat. Medium: Mitte, Öffentlichkeit), noch die unbeantwortbare Frage danach, wo Kommunikation im Sinn von Verständigung eigentlich stattfindet.
Frage nach dem Wo-durch

Raum ist hier vielmehr als Umkehrung von Innerlichkeit und Örtlichkeit zu verstehen, als grundsätzliche Ent-Äußerung und De-Zentrierung durch Medien und Kommunikation. Die Fragen die sich aufdrängen, zielen eher auf ein Wo-durch als auf ein Wo: Welche Räume müssen überbrückt und welche neuen Räume gebaut werden, um Kommunikation funktionieren zu lassen (z. B. zwischen einer Diskussion im Fernsehstudio und meinem Wohnzimmer)?

In welchem Verhältnis stehen Transport und Kommunikation (z. B. im Fall der Post, der morgendlichen Zeitung oder des permanenten Datenverkehrs im WWW)? Und welche Verbindungen zwischen heterogenen Elementen müssen dabei gezogen, welche Übersetzungen und Transformationen durchlaufen werden (z. B. zwischen einem gesprochenen Laut, seiner schriftlichen Darstellung und deren digitaler Reproduktion)?
Räume ermöglichen breiteres Verständnis
Was dadurch zum Ausdruck kommt ist, dass sich die Bedeutung von Medien und Kommunikation gar nicht erschließen lässt, ohne die Räume zu berücksichtigen, die sie eröffnen: Soziale Institutionen (z. B. der ORF), technische Infrastrukturen (z. B. Glasfaserkabel und Satellitenverbindungen), materielle Datenträger (z. B. Siliziumchips und digitale Datenströme), medienästhetische Interfaces (z. B. Computerbildschirme oder Websites) und Zeichencodes (z. B. html, Texte und Bilder).

Alle diese unterschiedlichen Komponenten, aus denen sich Medien zusammensetzen, benötigen nicht nur genügend Platz, sondern schaffen auch ihren jeweils eigenen Raum.
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Cyberspace und Globalisierung
Nicht zuletzt am Beispiel der Medien digitaler Vernetzung zeichnet sich immer deutlicher ab, warum das Interesse an Raum und Räumlichkeit zunehmend an Relevanz gewinnt. Es sind gerade die Erklärungszusammenhänge von Globalisierung und Digitalisierung, die sich hier treffen. Für diese beiden Sachgebiete ergibt sich im Hinblick auf den Raum ein gemeinsamer Referenzpunkt. Und erst die ökonomischen, technischen und sozialen Dynamiken, die sich darin ausdrücken, verleihen dem Raum seine wachsende Bedeutung.
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Virtualisierung von Kapitalflüssen
Nirgendwo sonst zeigt sich das augenblicklich deutlicher als im Einfluss digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien auf die Entwicklung von globalen Märkten und Wirtschaftsräumen. Was zuletzt als "Schwarzer Montag" die Börsen von Frankfurt bis Tokio zum Absturz brachte, ist auch als Effekt zunehmender Beschleunigung und Virtualisierung von Kapitalflüssen durch immer umfassendere räumliche Vernetzung zu verstehen.

Und wenn nun ganze Volkswirtschaften vor den Auswirkungen der Wirtschaftskrise in den USA zittern, wird deutlich wie stark der Zusammenhang zwischen den Finanzspekulationen im Cyberspace und der realen Wirtschaftsgeographie tatsächlich ist (dass diese Krise ausgerechnet vom Immobiliengeschäft ausgeht, ist dabei nur ein ironisches Detail am Rande).
Auseinandersetzung mit materiellen Verhältnissen
Zugleich entsteht hier auch die Chance, langwierige Kontroversen wie diejenigen über die Informationsgesellschaft oder die "Sozialutopie Internet" auf den Boden konkreter, materieller Sachverhalte zurück zu bringen.

Teilweise hat das gegenwärtige kulturwissenschaftliche Interesse am Raum sicherlich damit zu tun, einer wachsenden Dringlichkeit zur Auseinandersetzung mit grundlegenden materiellen Verhältnissen und Tatsachen nachzukommen: Ökologische Katastrophen, kriegerische Konflikte, Wirtschaftskrisen und die Auswirkungen rasanter technologischer Entwicklung auf Gesellschaft und Individuen.
Geographischer Materialismus
Anhand dieser unterschiedlichen Beispiele lässt sich nicht nur beobachten, wie unentwegt Verbindungen hergestellt oder gekappt werden, alte Räume zerfallen und neue Räume entstehen.

Auf die eine oder andere Weise kommt dadurch auch ein geographischer Materialismus wieder ins Spiel, dem es gelingt selbst gegenüber der scheinbar immateriellen, virtuellen und globalen Welt der digitalen Medien die Bedeutung des Materiellen, des Konkreten und Lokalen wieder zu betonen.
Heterogene Elemente verbinden
Womöglich besteht der Reiz, den der Raumbegriff augenblicklich für medientheoretische Ansätze hat, gerade darin, heterogene und scheinbar unvereinbare Elemente zusammen zu bringen (physischer Transport und mediale Vermittlung, technische Strukturen und kulturelle Praktiken, materieller Träger und semiotischer Code).

Und das, ohne die bestehenden Differenzen zu leugnen, sondern sie in metatheoretischem Gestus zur eigentlichen Form der Veranschaulichung zu machen. Demnach wäre Raum tatsächlich mehr als nur eine modische Erscheinung im theoretischen Diskurs, sondern ein fächerübergreifendes Modell, das sich durchaus als ausbau- und anschlussfähig erweisen könnte.

[28.2.08]
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Über den Autor
Thomas Schindl studierte Kommunikations- und Medienwissenschaft in Wien und Paris. Ende 2007 erschien sein Buch "Räume des Medialen. Zum spatial turn in Kulturwissenschaften und Medientheorien".
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01.01.2010