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Sprachförderung: Wie Migranten Deutsch lernen
"Wissenschaftssprache nach außen tragen, ist Missbrauch"
 
  Beim Sprechen ist jeder Experte. Das macht es einfach und schwierig zugleich, Erkenntnisse aus der Sprachforschung zu vermitteln. Die Linguistin Katharina Brizic vom Wiener Institut für Sprachwissenschaft bemüht sich dennoch darum, ihre Arbeit im Bereich der nachhaltigen Sprachförderung nach außen zu tragen - beispielsweise in den Praxisalltag der Sprachförderung bei Migranten, aber auch in die breite Öffentlichkeit.  
Im Rahmen einer Tagung zum Thema "Nachhaltige Sprachförderung" am 28. und 29. Februar 2008 hat die Forscherin über die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Familiensprache und Bildungserfolg ebenso wie zum Erwerb von Zweitsprachen referiert.

Im Interview mit science.ORF.at skizziert die Forscherin die wesentlichen Fakten, spricht über Ihr künftiges FWF-Projekt "BildungsErfolg durch SprachTod?" (BEST) und schildert, warum es gefährlich ist, die interne Wissenschaftssprache zur Vermittlung an ein breites Publikum zu verwenden.
Was weiß die Sprachwissenschaft über die Sprachförderung bei Migranten?

Wichtig ist das Eigene, was die Menschen mitbringen an Sprache und Bildung, weiters Unterrichtsmethode und Lehrperson sowie die Anwendung und Wertschätzung des Gelernten. Je älter die Zielgruppe wird, desto weniger ist über den Spracherwerb bekannt. Es ist ein kognitiver Prozess mit vielen Einflussfaktoren und über viele Vorgänge im Gehirn weiß man nur wenig.
Wieso weiß man so wenig über den Erwerb von Zweitsprachen?

Die linguistische Wissenschaftskultur wurde in europäischen Ländern geprägt, wo meist eine einzige dominante Staatssprache vorherrscht. Zweitsprachen sind erst durch Migration interessant geworden. Käme diese Forschung dagegen aus Indien, sähe das vielleicht anders aus, weil es dort ungefähr 20 anerkannte Sprachen und 100 gesprochene gibt.
Wie sollten Sprachkurse - basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen - aussehen?

Für Kinder muss Sprachunterricht total lebensnah sein. Sie wollen Deutsch anwenden, angreifen und miteinander praktizieren. Eine Isolierung in eigenen Klassen ist deshalb fatal. Für Erwachsene ist der Anreiz zur Teilhabe an der Gesellschaft wichtig: Das Recht auf Aufenthalt, Arbeit und Mitbestimmung. Besonders gut wären Kurse für bestimmte Berufsgruppen.
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Schwerpunkt: "Sprechen Sie Wissenschaft?"
"Sprechen Sie Wissenschaft? Wissenschaftssprache im öffentlichen Dialog" heißt eine Initiative von BMWF und Ö1 Wissenschaft. Forscher und Forscherinnen verschiedener Disziplinen reflektieren dabei in science.ORF.at in Gastbeiträgen und Interviews über den wissenschaftlichen Sprachgebrauch und den Bedarf an Wissenschaftskommunikation.
->   Alle Beiträge zu "Sprechen Sie Wissenschaft?"
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Sie beschäftigen sich in Ihrem aktuellen Projekt mit dem Sprachtod. Wie verliert man (s)eine Sprache?

Der Sprachtod als soziales Phänomen ist gut erforscht, aber über die Folgen weiß man wenig. Wirtschaftlich benachteiligte Gruppen geben ihr Sprache leichter auf. Deswegen ist Englisch eine Weltsprache und Chinesisch wird es gerade. Die meisten Sprachen sind vom Aussterben bedroht, weil die Sprechenden sich bei Migration, Flucht oder Arbeitssuche zerstreuen.
Migranten sollen derzeit in 300 Stunden "Deutsch lernen". Das klingt nicht, als würden linguistische Erkenntnisse umgesetzt.

In der Politik werden wissenschaftliche Erkenntnisse offenbar oft sehr zweckgerichtet gesehen. Wenn die Ergebnisse kompliziert sind und gegen die eigene Linie laufen, ist das sicher ein Umsetzungshindernis. Für Außenstehende ist es außerdem schwierig herauszulesen, was genau getan werden soll. Verschiedene Disziplinen kommen zu verschiedenen - wenn auch nicht diametral entgegen gesetzten - Ergebnissen.

Soziologie, Linguistik, Politikwissenschaft, Ethnologie und auch Psychologie arbeiten am Thema Sprache. Es ist in der Wissenschaft aber ohnehin immer weniger üblich, für sich allein zu arbeiten.

Mich fasziniert die Verbindung der verschiedenen Ansätze. Im Netzwerk SprachenRechte bemühen wir uns um die Wahrnehmung auf politischer Ebene. Die Mitglieder kommen aus verschiedenen Sparten und tauschen Informationen aus. Juristendeutsch ist ja auch wieder eine eigene Sprache.
Wenn es "von oben verordnet" nicht funktioniert, wie bekommen Sie nützliche Ergebnisse in die Lehr-Praxis?

Meine Kollegen und ich gehen direkt in die Schulen und halten Referate vor Lehrerinnen und Lehrern. Die Praktiker sind sehr interessiert und die Ergebnisse aus der Sprachwissenschaft werden oft unmittelbar in Eigeninitiative umgesetzt.

Es weiß nur keiner. Ich kenne viele Lehrer, die um sieben in der Schule sind oder bis 16 Uhr bleiben, obwohl sie das nicht müssen, um ihre Migranten-Schüler zu fördern. Ich kenne Migrantenvereine, Schulpsychologen und Musiklehrer, die unsere Erkenntnisse gleich anwenden.
Sprechen tun wir alle. Ist das hilfreich bei der Vermittlung von Erkenntnissen aus der Linguistik?

Bei fast allen Menschen besteht Interesse für Sprache, die Inhalte der Linguistik sind für viele interessant. In gewisser Weise sind Menschen Experten für ihre Sprache. Der Nachteil ist, dass Laien rasch sagen: Das glaube ich nicht, weil bei Herr X oder Frau Y ist das ganz anders.

Die Wissenschaft stellt individuelle Erfahrungen in einen großen Kontext. Wenn man ein Individuum beobachtet, sieht man nicht soviel, als wenn man ein Land, tausende Menschen, oder einen langen Zeitraum betrachtet.

Das sind einfach zwei verschiedene Sichtweisen der Realität, die sich gut ergänzen können. Vielen Wissenschaftlern ist nicht klar, dass sie die individuelle Perspektive dennoch ernst nehmen müssen.
Wie macht man Wissenschaftssprache schmackhaft?

Die Wissenschaftssprache in der Linguistik ist genauso unverständlich, wie die der anderen Disziplinen. Sie ist total sinnvoll, wenn sie in der eigenen Gruppe verwendet wird, weil sie erspart, neue Begriffe erfinden zu müssen. Wenn die interne Wissenschaftssprache nach außen getragen wird, ist das schlicht Missbrauch.

Sie soll unsere Arbeit erleichtern, aber nicht Menschen das Gefühl geben, dass sie zu blöd sind uns zu verstehen. Es ist unser Job als Wissenschaftler unsere Erkenntnisse zu übersetzen. Meine Forschungsergebnisse werden von wissenschaftlichen Laien kommentiert und abgeklopft, ob sie überhaupt plausibel sind. Das ist sehr hilfreich.

Astrid Kuffner, science.ORF.at, 29.2.08
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Die Gesprächspartnerin
Katharina Brizic leitet ab März ein Forschungsprojekt zu den Auswirkungen von Sprachwechsel und Sprachtod auf den Bildungserfolg. Sie ist Lektorin am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien, eine Halb-Migrantin der zweiten Generation, ausgebildete Pianistin und Expertin für Sprachförderung bei Migranten. Für ihr Buch "Das geheime Leben der Sprachen. Gesprochene und verschwiegene Sprachen und ihr Einfluss auf den Spracherwerb in der Migration" (Waxmann Verlag) hat Brizic den Nachwuchspreis Bildungssoziologie 2006 erhalten.
->   Institut für Sprachwissenschaften, Uni Wien
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->   Netzwerk SprachenRechte & Konferenz "Nachhaltige Sprachförderung"
->   FWF-Forschungsprojekt "Bildungserfolg bei Sprachtod? (B.E.S.T.)"
Mehr zu dem Thema:
->   Schulen: Neue Strategien für die Mehrsprachigkeit (24.9.07)
->   OECD: Mangelhafte Förderung von Migrantenkindern (18.9.07)
->   Linguist: "Ethnolekt" im Vormarsch (26.2.07)
->   Was braucht gutes Deutsch? (31.5.06)
 
 
 
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01.01.2010