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1938: Vertreibung der Studierenden von der Uni Wien  
  Bundespräsident Kurt Waldheim, der erste Ordinarius für Zeitgeschichte in Wien Ludwig Jedlicka und der Ordinarius für Germanistik an der Stanford University Walter Sokel haben eines gemeinsam: Sie alle waren 1938 Studenten der Universität Wien. Zumindest bis zum 12. März 1938.  
Ein neues Buch zeigt in Worten und Bildern eindrucksvoll, wie sich die Lebensgeschichten der Studierenden nach dem "Anschluss" unterschieden haben und wie die Juden und Jüdinnen schrittweise von der Uni vertrieben wurden. Der Historiker und Buch-Mitautor Herbert Posch fasst die Ergebnisse eines entsprechenden Forschungsprojekts in einem Gastbeitrag zusammen.
"Anschluss" und Ausschluss
Von Herbert Posch

Mit dem "Anschluss" ans Deutsche Reich wird auch die Universität Wien, die größte Hochschule Österreichs, radikal und in kürzester Zeit zu einer nationalsozialistischen Institution umgestaltet.

Jüdische ProfessorInnen, DozentInnen, wie auch die zahlenmäßig größte Gruppe der Universität Wien, die Studierenden, wurden vertrieben. Von letzteren wusste man bislang nur wenig.

Von den 9.180 Studierenden der Universität im Wintersemester 1937/38 verlassen 1938 42 Prozent die Universität - allerdings 23 Prozent nicht freiwillig. 2.230 Studierende werden als Jüdinnen und Juden vertrieben. Den meisten gelang die Flucht, doch über 90 von ihnen wurden später im Zuge der Shoah ermordet.
Vertreibung in Wien besonders rasch
Die Vertreibung ging rasch und reibungslos vonstatten. Sie verlief nach dem gleichen Muster wie zuvor in Deutschland, nur wesentlich schneller.

Was dort zum Teil sechs Jahre gedauert hatte, wurde in Wien nach dem "Anschluss" in wenigen Monaten und unter reger Beteiligung der NS-nahen Studierenden, Beamten und Professoren umgesetzt.

Es war eine Machtübernahme von unten, von oben, von innen und von außen - "Selbstgleichschaltung" und "Gleichschaltung" durch die neuen Machthaber gingen Hand in Hand und ergänzten einander.
->   Bilder aus dem Buch "'Anschluss' und Ausschluss 1938"
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Buchpräsentation am 12.3.
Das Buch von Herbert Posch, Doris Ingrisch, Gert Dressel: "Anschluss" und Ausschluss 1938. Vertriebene und verbliebene Studierende der Universität Wien" erscheint im LIT-Verlag. Das Buch wird am 12. März, 18.30 Uhr präsentiert. Ort: Kleiner Festsaal der Universität Wien, 1010 Wien, Dr. Karl-Lueger Ring 1.
->   Uni Wien
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Keine Inskription mehr für Juden
Bild: LIT-Verlag
Das Buch
Am 29. März wurde verfügt, dass bei der Inskription eidesstattlich zu erklären sei, dass man kein Jude ist, bzw. dass jüdische Studierende nicht mehr inskribieren durften. Bereits vorgenommene Inskriptionen wurden aufgehoben.

Jüdische Studierende wurden auch nicht mehr zu Abschlussprüfungen und Promotionen zugelassen.

Am 23. April wurde ein Numerus clausus von zwei Prozent für jüdische Studierende eingeführt (ein Zehntel der bisherigen Anzahl). Die Namen der jüdischen Studierenden wurden von der Universität an die Gestapo weitergeleitet mit dem Ersuchen, dort zu überprüfen ob nicht "einzelne in Haft genommen werden sollten".
Endgültiges Aus im Herbst
Am 24. April wurde jüdischen Studierenden das Betreten der Universität verboten. Im Juni und Oktober wurden einige wenige jüdische Studierende unter demütigenden Rahmenbedingungen noch zu "Nichtarierpromotionen" zugelassen - bevor ihnen schließlich im Herbst 1938 Studium und Promotion generell verboten wurde.

Zahlreiche jüdische AbsolventInnen wurden eines Doktorates für "unwürdig" erklärt; es wurde Ihnen rückwirkend aberkannt.
60 ehemalige Studierende interviewt
Im Zuge eines Forschungsprojektes am Wiener Institut für Zeitgeschichte habe ich - gemeinsam mit Doris Ingrisch und Gert Dressel unter Leitung von Friedrich Stadler - in den Akten des Universitätsarchivs recherchiert, um Zahl und Namen der Betroffenen zu erheben.

Zugleich wurde versucht, mit möglichst vielen noch lebende Studierenden von 1938, Vertriebenen wie Verbliebenen, in Kontakt zu treten. Es wurden fast 60 ehemalige Studierende, die heute in Österreich, Großbritannien, den USA, der Schweiz oder in Israel leben, interviewt.
Einschnitte in Lebenslauf
Die bewegenden lebensgeschichtlichen Erinnerungen von Betroffenen verdeutlichen, welchen Einschnitt diese "Rassenpolitik" für den weiteren Lebensverlauf bedeuten konnte - ein damaliger Jusstudent wurde später Bäcker, eine ambitionierte Medizinstudentin wechselte ins literarische Fach.

Eine damalige Germanistik- und Pädagogikstudentin, die erst in den Märztagen des Jahres 1938 über ihre jüdische Herkunft erfuhr, emigrierte nach England, verdiente sich dort als Kindermädchen ihren Lebensunterhalt und konnte erst viele Jahre nach ihrer Rückkehr nach Österreich im Kulturbereich eine Anstellung finden.
Namen der Vertriebenen festgestellt
Die Universität unter Rektor Georg Winckler unterstützte die Bemühungen, dieses lange vernachlässigte Thema aufzuarbeiten. So konnten nicht bloß die Zahlen, sondern großteils auch die Namen der vertriebenen Studierenden festgestellt werden, die nunmehr Bestandteil der kollektiven Erinnerung der Universität werden sollten.

Als einen Schritt dazu wird zum 70. Jahrestag des 'Anschlusses' - gleichzeitig 643. Gründungstag der Universität Wien - einer der Betroffenen über seine Erfahrungen sprechen.
Ein Beispiel: Vom Laufburschen zum Kafka-Experten
Walter Sokel, 1917 in Wien geboren, war zu Beginn des Jahres 1938 noch ein engagierter Student der Romanistik und Kunstgeschichte an der Universität Wien. Nach dem "Anschluss" gelang es ihm, über Italien und die Schweiz in die USA zu fliehen.

Er verdingte sich zunächst als Laufbursche an der Wall Street, erhielt dann aber dank eines Empfehlungsschreibens von Thomas Mann ein Stipendium und konnte Germanistik und Vergleichender Literaturwissenschaften an der Columbia University studieren. Als international renommierter Kafka-Experte lehrte er schließlich an zahlreichen amerikanischen und europäischen Universitäten.
1938 als unverhoffte "Chance"
Das ist es auch, was Walter Sokel von den eingangs mit ihm genannten Personen unterscheidet: Sie konnten ihr Studium auch im Nationalsozialismus fortsetzen und ihre geplanten Bildungswege zu erfolgreichen Karrieren weiterführen - er wurde daran gewaltsam gehindert.

Dass er sie trotzdem in der Emigration realisieren konnte, ist kein Verdienst der Universität Wien, im Gegenteil.

Ohne Groll blickt er heute auf die Ereignisse des Jahres 1938 zurück. In der ihm eigenen humoristischen Art resümiert er: "1938 hat mich dazu gezwungen, das zu tun, was ich wollte" - nämlich Wien zu verlassen.

[7.3.08]
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Über den Autor
Herbert Posch ist Historiker und Museologe am Institut für Zeitgeschichte/Universität Wien und am Institut für Wissenschaftskommunikation und Hochschulforschung/Universität Klagenfurt Forschungsarbeiten zu Universitäts- und Studierendengeschichte im 20. Jahrhundert, Kunstraub & Restitution, Museologie und Museumsgeschichte.
->   Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien
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01.01.2010