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Märkte als Gradmesser für soziale Veränderung  
  In den vergangenen 20 Jahren hat sich das Aussehen von Europa stark verändert. Speziell in Osteuropa sind dabei viele neue "informelle Märkte" entstanden, wie es der Kulturwissenschaftler Helge Mooshammer nennt. Sie sind für ihn Schauplätze einer "Ökonomie des Überlebens" und bieten oft ein durchaus zweifelhaftes Warensortiment. Mooshammer beschreibt sie in einem Gastbeitrag als Gradmesser für gesellschaftliche und kulturelle Veränderung.  
Gemeinschaften des Überlebens
Von Helge Mooshammer

Die kilometerlangen Containermärkte im östlichen Europa, die Schwarzmärkte der Nachkriegszeiten oder der eurasische Kofferhandel - all diese Märkte sind Schauplätze einer Ökonomie des Überlebens. Ausgelöst und geprägt vom Zusammenbruch staatlicher Strukturen wächst ein Netzwerk an Beziehungen, wo nicht nur Waren des unmittelbaren Bedarfs verschoben werden, sondern die grundlegenden Bedingungen des Lebens mitverhandelt werden.

Unterschiedliche Kulturen treffen im Lokalen unreguliert aufeinander und bilden hybride, widersprüchliche und umkämpfte Räume. Informelle Märkte bilden so besondere Knotenpunkte einer wachsenden Schattenglobalisierung, die mit der Deregulierung und Liberalisierung des globalen Kapitalmarktes einhergeht.

Als Mikroschauplatz informeller Begegnungen sind sie Ausdruck kultureller Veränderung im Verhältnis von globaler, nationaler und lokaler Ökonomie.
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Vortrag in Wien
Helge Mooshammer hält am Montag, den 10. März 2008 um 18.00 c.t. am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen Vortrag mit dem Titel "Gemeinschaften des Überlebens. Märkte und die kulturelle Organisation Europas".
Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über den Vortrag
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Arizona Markt in Brcko auf 40 Hektar
Einer der berüchtigtsten dieser Marktplätze des Überlebens befindet sich nahe der nordostbosnischen Stadt Brcko - der sogenannte Arizona Markt mit 2.500 Standplätze auf 40 Hektar Landfläche, drei Millionen Besuchern pro Jahr und geschätzten 100.000 Personen, die hier direkt oder indirekt Beschäftigung finden.

Was den Markt über diese Daten hinaus auszeichnet, klafft je nach Blickwinkel und je nach Interessenslage allerdings weit auseinander: Für die einen ist er ein Modell für multi-ethnische Gemeinschaft, für andere die größte Open-Air Shopping Mall am Balkan, für dritte wieder die Hölle auf Erden.
Freihandelszone nach dem Krieg
Der Landstrich des heutigen Arizona Market ist Teil des nach dem Austritt Bosnien-Herzegowinas aus dem Staatsverband Jugoslawien im Jahr 1991 zwischen serbischen, kroatischen und bosnisch-muslimischen Einheiten aufgrund seiner strategischen Lage besonders umkämpften Kriegsgebiets.

Als sich der am Schnittpunkt der drei ethnischen Gruppierungen eingerichtete Checkpoint zum informellen Treffpunkt entwickelte, Zigaretten und Vieh gehandelt und am Straßenrand Kaffee ausgeschenkt wurde, entschied die lokale Kommandantur 1996 zur Förderung der ersten Anfänge ethnischen Zusammenkommens hier eine "Freihandelszone" als friedenskonsolidierende Maßnahme zu errichten.
Selbstorganisierte Urbanisierung ...
Das Zusammentreffen über wirtschaftliche Aktivitäten und die Eigeninitiative dieser Grauhandelszone wurde als modellhafter Ansatz für den nachhaltigen Aufbau von Kommunikations- und Gemeinschaftsstrukturen zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern angepriesen.

Neben mobilem Verkauf und einfachen Markteinrichtungen entstanden bald erste einfamilienhausähnliche Strukturen, die einen selbstorganisierten Urbanisierungsprozess des Geländes ankündigten.
... mit Prostitution und Menschenhandel
Die in diesen Hütten und Häusern operierenden Bars und Motels beherbergten aber in zunehmendem Maße einen Handel, der es immer schwieriger machte, die Erfolgsstory des Friedens durch Marktwirtschaft international zu verkaufen: Denn wirklich Geld wurde auf dem Arizona Market nicht mit Kleidern oder Schuhen, sondern mit Prostitution und Menschenhandel gemacht.

Am 26. Oktober 2000 verkündete die International Community (OHR, OSCE, UNMIBH und SFOR) ein Maßnahmenpaket zur Säuberung des Arizona Market von diesen illegalen Aktivitäten.

Kernstück sollten neben der Regulierung von Lizenzvergaben und Steuereinnahmen die Umsiedelung des Marktes an einen neuen, mit entsprechenden Sanitär- und Sicherheitseinrichtungen ausgestatteten Platz bis Juni 2001 bilden.
Verstrickung mit den Friedenstruppen
In nur zehn Jahren hat sich in Arizona Market ein Wandel zugetragen, der einen Schauplatz nackten Lebens in einen Ort allumfassenden Konsums transformiert hat. Aus einem Grenzposten wurde ein post-metropolitanes Gebiet: Der "spontan" gewachsene, öffentlich-urbane Raum zwischen Transportern und Hütten wurde von gebührenpflichtigen Parkplätzen ersetzt. Das Zusammenkommen der verschiedenen Kulturen wird nun durch festgelegte Öffnungszeiten und privates Wachpersonal geregelt.

Gegenüber den Hoffnungen, der Arizona Market könnte ein Modell für eine selbstorganisierte Stadt bilden, erwies sich der Markt in seiner Existenz und Entwicklung als viel weitreichender mit der Anwesenheit der internationalen Schutztruppen verstrickt, als dies die ursprüngliche großzügige Geste des Planierens von ein paar Feldern vorgab.

Denn schon die Krise selbst, der dramatische Anstieg von Prostitution und Frauenhandel wird vom UNHCR nicht zuletzt der Präsenz von über 30.000 Peacekeepers in Bosnien und Herzegowina zugesprochen.
Informelle Märkte fragmentieren und vervielfältigen
Die Verwicklung des lokalen Geschehens rund um den Arizona Market mit den globalen Strömen an Kapital, Menschen, Ideen, Bildern und Waren verdeutlicht, wie sehr informelle Märkte Gradmesser für gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen sind.

In einem Marktsystem, das auf der Herstellung und Ausnützung von Ausnahmesituationen beruht, bilden sie ein Auffanglager für Verlorengegangenes und Ausgeschiedenes. Allerdings eines, das sich weitgehend selbst errichtet.

Informelle Märkte sind damit Mitproduzierende einer gleichzeitigen geokulturellen Fragmentierung und Vervielfältigung. Die Frage, die sich im Umgang mit ihnen stellt und die immer eine örtlich und zeitlich verschiedene ist, ist vor allem eine Frage der Möglichkeiten, die der mit der räumlichen und sozialen Organisation der Märkte verbundenen Kreativität für das Hervorbringen neuer Strukturen gesellschaftlichen Zusammenkommens eingeräumt werden.

[10.3.08]
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Über den Autor
Helge Mooshammer lehrt und forscht im Bereich Visuelle Kultur am Institut für Kunst und Gestaltung der Technischen Universität Wien. Seit 2006 Projektleiter des FWF-Projekts "Relationale Architektur". Seit 2005 Research Associate des EU-Projekts "Networked Cultures" am Goldsmiths College der University of London. Gastlehre an der Kunstuniversität Linz, am Goldsmiths College, London, und der Merz Akademie, Stuttgart. Im Sommersemester 2008 ist Helge Mooshammer Research Fellow am IFK Wien.
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->   Arizona Market
->   Gastbeiträge des IFK in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010