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Studie: Arzt-Patienten-Gespräche zu unpersönlich  
  Wenn Patienten mit ihrem Arzt über ihre Krankheit sprechen, machen sie das ganz anders als in üblichen Gesprächen. Wegen starrer Fragekorsetts vonseiten des Arztes und mangelnder Zeit gehen dabei schlimmstenfalls Informationen verloren, die für eine Behandlung wertvoll wären.  
Davor warnt ein Team Wiener Sprachwissenschaftler, das die Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten untersucht hat.

Projektleiter Florian Menz plädiert in einem Interview dafür, während der Anamnese mehr Zeit für die Schilderung persönlicher Eindrücke einzuplanen.
Wie haben Sie sich dieser alltäglichen Sprachsituation wissenschaftlich genähert?

Menz: Wir haben einerseits die Gespräche von Ärzten und Patienten mit deren Einwilligung auf Video und Tonband dokumentiert und anschließend mit speziellen empirischen Methoden der Linguistik transkribiert. Das ist zwar ein sehr aufwändiges Verfahren, hat aber den Vorteil, dass wir jede sprachliche Veränderung ebenso wie jede nonverbale Kommunikation - also auch Mimik und Gestik - vorliegen haben.

Daraus können wir uns ein sehr authentisches Bild dieser klassischen Gesprächssituation machen. Andererseits haben wir in einem spontanen Gespräch Interviews mit den Patienten außerhalb eines klassischen Anamnesegespräches beim Arzt gemacht, um die Unterschiede in der Darstellung von Schmerzen und der Erzählungen von der Krankheit herausfiltern zu können.
Was sind die wichtigsten Erkenntnisse?

Menz: Im spontanen Gespräch außerhalb des klassischen Arzt-Patienten-Gespräches stellen Patienten ihre Schmerzen und Krankheitsbilder weitaus subjektiver und Frauen auch umfangreicher dar. Sie kommunizieren vermehrt alltagsbezogene Faktoren wie den Einfluss der Erkrankung auf den sozialen Kontakt oder die psychische Belastung durch Schmerzen.

Sie sprechen über die persönliche Vorstellung ihrer Erkrankung. Sie schildern, welche Maßnahmen sie selbst setzen, um Schmerzen zu lindern oder zu vermeiden. All diese Eindrücke erfährt der Arzt üblicherweise nicht. Dabei wären genau diese Aussagen möglicherweise wichtige Informationen für die Behandlung beziehungsweise für die Kooperation des Patienten mit dem Arzt.
Warum ist das so?

Menz: Der Verlauf des Arzt-Patienten-Gesprächs wird stark vom Arzt beziehungsweise seinen Frageschemata im Zuge einer Anamnese vorgegeben. Der Patient hat wenig Spielraum, aus diesem vorgegebenen Gesprächsmuster auszubrechen. Außerdem gibt es bestimmte, medizinisch vorgegebene Schmerzkategorien, um die Anamnese für den Arzt möglichst einfach und eindeutig zu gestalten.

Der Arzt fragt normalerweise nach diesen Vorgaben ab. Diese vorgegebenen Definitionen von Schmerz decken sich aber - wie wir in unserer Studie herausgefunden haben - nicht immer mit der subjektiven Wahrnehmung der Patienten. Diese artikulieren ihre Symptome im spontanen Gespräch häufig anders beziehungsweise ergänzen diese um zusätzliche Informationen über das persönliche Erleben.
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Schwerpunkt: "Sprechen Sie Wissenschaft?"
"Sprechen Sie Wissenschaft? Wissenschaftssprache im öffentlichen Dialog" heißt eine Initiative von BMWF und Ö1 Wissenschaft. Forscher und Forscherinnen verschiedener Disziplinen reflektieren dabei in science.ORF.at in Gastbeiträgen und Interviews über den wissenschaftlichen Sprachgebrauch und den Bedarf an Wissenschaftskommunikation.
->   Sprechen Sie Wissenschaft?
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Welche Probleme ergeben sich daraus?

Menz: Dem Arzt entgehen bei der Anamnese unter Umständen wichtige Zusatzinformationen zur genauen Krankheits- und Schmerzdiagnose. Im schlimmsten Fall kann das dazu führen, dass Fehldiagnosen gestellt oder wesentliche Punkte übersehen und dadurch falsche und unzureichende Behandlungsmaßnahmen ergriffen werden.

Es reicht aber auch schon, dass sich der Patient missverstanden oder in seiner Erkrankung nicht richtig wahrgenommen fühlt und die vorgeschlagene Behandlung ablehnt oder zumindest nicht konsequent durchführt.
Bei ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen handelt es sich um wesentliche Informationen für Ärzte und Patienten. Wie übersetzen sie diese aus der Wissenschaftssprache in eine allgemein verständliche Sprache?

Menz: Unsere wissenschaftliche Arbeit ist relativ leicht vermittelbar, weil wir in unserer Arbeit einen Sprachprozess beschreiben, den die meisten Menschen kennen und nachvollziehen können. Natürlich gibt es einen komplexen theoretischen Hinterbau. Den muss der Außenstehende nicht unbedingt verstehen, um die Aussagen der Studie zu erfassen. Deshalb transportieren wir diesen in der Vermittlung auch nicht unbedingt mit.
Kommt Ihnen die Wissenschaftssprache bei der Vermittlung Ihrer Erkenntnisse manchmal in den Weg?

Menz: Nein, die Wissenschaftssprache kommt nur insofern ins Spiel, als dass wir sie neben der konkreten Arbeit in internen Diskussionen unserer Analysen oder bei wissenschaftlichen Publikationen verwenden. Das ist auch unumgänglich - schließlich sollen unsere Arbeiten auch von Kollegen wissenschaftlich korrekt nachvollzogen werden.
Was können Ärzte aus Ihrer Studie lernen?

Menz: Geben Sie den Patienten mehr Spielraum, sich und ihre Vorstellungen der Erkrankung und der Schmerzen zu artikulieren. Wichtig ist dabei, dass der Arzt im Vorfeld des Gesprächs die Struktur klar macht: Zuerst wird die medizinische Anamnese durchgeführt, dann hat der Patienten Zeit für persönliche Äußerungen.

Außerdem sollten die Schmerzkategorien der klassischen Anamnese überdacht und gemäß unseren Erkenntnissen adaptiert werden. Ideal wäre der goldene Mittelweg zwischen medizinischer Fachsprache und individueller Alltagssprache.

In einer gerade begonnenen Studie werden wir uns genau diesem Problem widmen und gemeinsam mit Medizinern der Kopfschmerzambulanz am AKH Wien die Unterschiede zwischen medizinischem Schmerzbild und Beschreibung durch den Patienten oder durch die Patientin analysieren. Das Ziel ist, die Basis für die Adaption solcher Schmerzkategorien zu schaffen.

Eva-Maria Gruber, science.ORF.at, 19.3.08
->   Inst. für Sprachwissenschaft, Uni Wien
->   Sprechen Sie Wissenschaft? (Wissenschaftsministerium)
 
 
 
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01.01.2010