News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 
Lyrisches Potenzial der Wissenschaftssprache  
  Was hat Lyrik mit Wissenschaftssprache zu tun? Mehr, als man auf den ersten Blick glauben mag. Die Umwelthistorikerin Verena Winiwarter vom Wiener Institut für Soziale Ökologie, IFF Wien, erklärt im Zuge des Schwerpunkts "Sprechen Sie Wissenschaft?", wo die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Sprachformen liegen, was die Wissenschaft von der Literatur noch lernen und wie das interdisziplinäre Arbeiten davon profitieren kann.  
Zeit für Sprache
Von Verena Winiwarter

Ein einziges Mal habe ich mit meinem Deutschlehrer, den ich geliebt habe und bis heute verehre, gestritten: Um einen Beistrich in einem Satz, der nur aus drei Worten bestand. Den Satz weiß ich nicht mehr.

Der Aufsatz, auf dessen erster Seite der inkriminierte Beistrich stand, hatte das Bild "Die brennende Giraffe" von Salvador Dali zum Gegenstand.
Sprache als Regelwerk
Es ging darum, mit dem Beistrich ein Innehalten zwischen den Worten zu erreichen, Zeit verstreichen zu lassen, den Lesenden Zeit abzunötigen, sie vielleicht durch die Irritation des Beistrichs dazu zu bringen, nochmals zum Anfang des Satzes zurückzukehren, wieder zu lesen.

Es ging um das lyrische Potenzial der Sprache, so würde ich mein Anliegen heute formulieren. Der Beistrich wurde gestrichen, weil er grammatikalisch nicht korrekt war, ich ließ es geschehen, vergessen habe ich es nicht.
Sprache als Thema
Als ich die ersten Lehrveranstaltungen halten durfte, wollte ich den interdisziplinär zusammengesetzten Gruppen von Studierenden den Weg zur Umweltgeschichte, meinem Fachgebiet, erleichtern.

Statt sie abstrakt über "Narrationsweisen" oder über Verständigungshindernisse zwischen Wissenschaftsdisziplinen zu belehren, lud ich sie zu Beginn des Semesters jeweils ein, ein Gedicht zu lesen und dann gemeinsam darüber zu diskutieren. Ich wollte sie dazu bringen, über die Differenz zwischen dem, was ein Autor oder eine Autorin an gedanklichen Vorstellungen in Sprache kodiert und dem, was Rezipientinnen durch Dekodierung leisten können, nachzudenken.

Die anfängliche Irritation überwanden die meisten, und wir diskutierten oft sehr profund. Die Doppelstunde, die ich zu Beginn des Semesters für den "Stoff" verlor, hat uns allen Gewinn gebracht. Universitäre Ausbildung soll Studierende befähigen, selbständig zu denken, Sprachbeherrschung ist dafür eine Voraussetzung. Nachdenken über verdichtete Sprache hat sich dafür als hilfreich erwiesen.
...
Schwerpunkt: "Sprechen Sie Wissenschaft?"
"Sprechen Sie Wissenschaft? Wissenschaftssprache im öffentlichen Dialog" heißt eine Initiative von BMWF und Ö1 Wissenschaft. Forscher und Forscherinnen verschiedener Disziplinen reflektieren dabei in science.ORF.at in Gastbeiträgen und Interviews über den wissenschaftlichen Sprachgebrauch und den Bedarf an Wissenschaftskommunikation.
->   Alle Beiträge zu "Sprechen Sie Wissenschaft?"
...
Verdichten
Trotzdem darf die Differenz zwischen lyrischer Sprache und Wissenschaftsprosa nicht verwischt werden. Gutes wissenschaftliches Schreiben ist verdichtet, ebenso wie Gedichte es sind, aber nach anderen Kriterien und mit anderen Mitteln. Präzision und Klarheit sind die Maßstäbe der Wissenschaftssprache, es geht nicht um die assoziative, klangliche Kraft der Sprache, die den Zauber von Gedichten ausmacht.

Von der einen Art der Verdichtung lässt sich aber für die andere Art lernen. In beiden Fällen, beim Gedichte machen wie beim wissenschaftlichen Schreiben gilt, dass weniger oft mehr ist. Zu lernen, wie wissenschaftlich Geschriebenes auf das Wesentliche reduziert werden kann, dazu braucht es Geduld mit den eigenen Texten.

Niemals ist einer gleich beim ersten Schreiben fertig, alle müssen umgearbeitet, gekürzt, präzisiert und poliert werden. Das braucht mehr Zeit als manch einer glaubt, im schnelllebigen Wissenschaftsbetrieb zu haben.
Wir sind in Sprache
Wir sind in Sprache, die Grenzen unserer Sprache sind die Grenzen unserer Welt, wie Ludwig Wittgenstein formulierte. Interdisziplinäres Arbeiten bewegt sich an den Grenzen disziplinärer Welten. Wir müssen Sprache weiterentwickeln, um diese Grenzen zu überschreiten, um den Teil des Universums, dem wir uns sprachlich annähern können, zu erweitern. Davon wird leider wenig gesprochen, Arbeit an der Ausweitung des Sagbaren wird auch nicht in Impact-Punkten abgegolten.

Aber die Wissenschaft ist jener gesellschaftliche Ort, an dem eigentlich Zeit für Experimente, auch sprachliche Experimente ist, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Wir Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sollten uns die Freiheit nehmen, an unserer Sprachmächtigkeit, und damit an unserer Fähigkeit, Probleme zu benennen und bearbeitbar zu machen, zu arbeiten.

Das braucht kontemplative, in Experimenten mit ungewissem Ausgang verbrachte Zeit, intensive Zeit für die Sprache, die wir uns nehmen sollten.
Abschied
Ein Gedichtband von 70 Seiten reicht für eine lange Reise. Wenige Zeilen aus einem Gedicht reichen hoffentlich für einen Nachhall dieser Ausführungen. Ich möchte andeuten, was unser Verhältnis zur Sprache für uns selbst bedeutet:

Karla komm wir haben nur unsere
Körper um die Zeit zu verlassen
& die Angst in den Worten immer

ein anderer zu sein.


(aus: Kurt Drawert, Gedicht)

[28.3.08]
...
Über die Autorin
Verena Winiwarter ist Professorin für Umweltgeschichte am Institut für Soziale Ökologie, IFF (Fakultät Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung der Universität Klagenfurt) Wien. In ihrem 2007 erschienenen Buch zur "Umweltgeschichte" (gemeinsam mit Martin Knoll) bietet die Umwelthistorikerin erstmals einen interdisziplinären Überblick über den sehr jungen Forschungsstand der Umweltgeschichte und eine Einführung in ihre Themen und Methoden.
->   Verena Winiwarter, IFF
...
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010