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Der Anachronismus der TV-Gesichter  
  Von Danielle Spera bis Armin Wolf kennen die meisten vor allem zwei Dinge: ihr Gesicht und ihren Oberkörper. Ein deutscher Medientheoretiker hat untersucht, was es mit diesen "TV-Gesichtern" auf sich hat. Dahinter stecken Bilder von Bildern sowie Masken von Masken, schreibt Martin Schulz in einem Gastbeitrag. Ihre Wurzeln reichen bis in die Steinzeit, meint der Kulturwissenschaftler anlässlich eines Vortrags am Wiener IFK.  
Ent-Larvung der Bilder
Bild: ORF
Von Martin Schulz

Warum gibt es eigentlich das Phänomen der Fernsehsprecher, die wir täglich zur selben Zeit und mit demselben Gesicht in den verschiedenen Nachrichtensendungen sehen?

Warum ist das selbstverständlich und so selbstverständlich, dass wir uns das gar nicht anders vorstellen können, nicht weiter darüber nachdenken und uns nicht über die Traditionen bewusst sind?

Traditionen, die selbstverständlich erinnert werden, so kann man die These aufstellen, werden auch leicht übersehen und vergessen. Warum ist es ferner so selbstverständlich, dass dabei die Gesichter in den Medien die entscheidende Rolle spielen, die uns direkt anzusprechen und anzublicken scheinen, als würden sie mit uns persönlich kommunizieren.
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Vortrag in Wien
Martin Schulz hält am Montag, 31. März 2008, 18 Uhr c.t. den Vortrag "Ent-Larvung der Bilder. Zum Anachronismus der TV-Gesichter".
Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über den Vortrag
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Intime Nähe und sichere Distanz
Die Selbstverständlichkeit, mit welcher die Bilderströme auf allen TV-Kanälen täglich eingeschaltet und wahrgenommen werden, lässt, wie gesagt, ihre Konsumenten leicht vergessen, dass sie es im Spektakel der ferngesteuerten, Raum und Zeit mühelos durchdringenden Bilder eben "nur" mit Bildern zu tun haben.

Um beim Beispiel des TV-Sprechers zu bleiben, das stellvertretend für viele andere stehen kann: Es ist so leicht und ritualisiert, sich mit Druck auf einer Taste das vertraute Gesicht einer Nachrichtensprecherin auf den häuslichen Bildschirm zu holen, es in intimer Nähe, aber aus sicherer Distanz anzublicken, sprechen zu hören und von ihm angeblickt und angesprochen, ohne dabei selbst gesehen und gehört zu werden - so gut wie in allen TV-Nachrichten dieser Welt.
Fixierung auf das Gesicht ...
Obgleich man sich gerne täuschen lässt, weiß jeder es doch ganz genau: Das telepräsente Gesicht ist stets ein inszeniertes, zeichenhaftes, von Medien nur animiertes und übertragenes Bild-Gesicht, das lebendig scheint, aber nicht lebendig ist.

Mehr noch: Es zeigt sich insofern als Bild in einem Bild, als das übertragene Bild-Gesicht bereits von einem geschminkten und frisierten Gesicht vorgegeben ist, dessen Mimik wiederum kulturellen Konventionen unterliegt und im Blick der Betrachter ohnehin schon als Oberfläche eines möglichen Bildes erfahren wird.
... hat lange Tradition
Diese Fixierung auf das Gesicht als dem entscheidenden Teil für den gesamten kommunizierenden Körper hat eine lange, sogar sehr lange Geschichte, die sich nicht nur in der Geschichte des westlichen Porträts verfolgen lässt, sondern bis weit in die Frühgeschichte zurückreicht.

Viele Beispiele können belegen, dass das TV-Gesicht eigentlich ein Anachronismus ist, der unabhängig von der rasanten technischen Entwicklung der Medien besteht und auf eine lange Vorgeschichte verweist, ohne welche wiederum die alltägliche Präsenz der halbfigurigen Fernsehgesichter eben nicht selbstverständlich und daher unverständlich wäre.
Präparierung in der "Maske"
Damit hängt ein weiteres uraltes Relikt unserer Bildgeschichte ab, das daher wenig historisch denn vor allem anthropologisch zu verstehen ist, nämlich die präparierte Maskenhaftigkeit der TV-Gesichter; und dies nicht allein in einem metaphorischen, sondern in einem ganz konkreten Sinn.

Das führt sehr anschaulich der Vorspann aus dem Film "Fahrenheit 9/11" von Michael Moore aus dem Jahr 2004 vor, der anhand von Archivbildern zeigt, wie die verschiedenen Politiker der noch mächtigsten Nation dieser Welt in der "Maske" buchstäblich präpariert werden.
Vom Rest des Körpers isoliert
Bild: ORF
Condoleezza Rice in der "Maske"
Dieser Vorspann ist auch, von Michael Moore wohl eher ungewollt, für tiefere bildhistorische Fragen ergiebig; für Fragen, welche die engen Beziehungen zwischen Gesicht, Maske, Bild und seinen jeweiligen Medien in den Blickpunkt rückt.

So selbstverständlich alles scheint, so aufschlussreich ist das zu sehende Procedere der bildwerdenden Gesichter, die, eben nicht nur in der Gegenwart der Fernsehkultur, einen großen, wenn nicht den größten Teil aller Bilder unserer Kulturgeschichte ausmachen.

Erkennbar wird die Umwandlung von körperlichen Gesichtern über ihre Maskierung hin zu kalkuliert künstlichen TV-Gesichtern, die von Apparaten konfiguriert, fokussiert, eingerahmt, aufgenommen, gespeichert, übertragen, vervielfältigt und vom Rest des Körpers isoliert werden.
Menschwerdung - eine Gesichtwerdung
Die Darstellungsweisen dieser TV-Gesichter sind, bei aller technischen Avanciertheit, keineswegs neu. Deutlich erscheint das Format des halbfigurigen, maskierten und frontal ausgerichteten Bildnisses, das zwar in den Techniken der aktuellen Medien zu sehen ist, aber zugleich zu einer sehr alten Bildgattung gehört.

Die Millionen von Bildgesichtern, die uns täglich von Plakatwänden, in Zeitschriften, auf allen TV-Kanälen umgeben, uns anblicken, anziehen oder abstoßen, überreden oder tyrannisieren, haben eine lange Vorgeschichte; daher ebenso die Tatsache, dass die Karriere eines Politikers wenig Aussichten hat, wenn er nicht über medientaugliche Maskierungen verfügt, und wir ohnehin in einer Politik der televisionären Bild-Gesichter leben, mit denen Wahlen entschieden werden.

Die historischen Tiefendimensionen der dominierenden facialen Botschaften" kann man bis zum Neolithikum zurückverfolgt. Und noch weiter kann man die Geschichte denken, wenn man, etwa mit dem Philosophen mit Peter Sloterdijk, die Menschwerdung als eine Gesichtwerdung begreift, als "Protraktion" des Gesichtes, das eben nicht mehr allein zum Fressen und Fauchen da ist, sondern dessen Sinne frei, kultiviert und offen werden.

[31.3.08]
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Über den Autor
Martin Schulz ist Privatdozent im Fachbereich "Kunstwissenschaft und Medientheorie" der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und IFK_Research Fellow. Publikationen u. a.: Ent-Larvung der Bilder. Zum Anachronismus der TV-Gesichter, in: Hans Belting (Hg.), Bilderfragen. Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007.
->   Martin Schulz, IFK
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01.01.2010