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"Den Blick im Auge": Sowjetisches Kino der 1920er Jahre  
  Das Kino in der Sowjetunion der 1920er Jahre nimmt einen besonderen Platz in der Filmgeschichte ein. Nie standen die Zuschauer mehr im Mittelpunkt des Interesses: Ihre Reaktionen im Kinosaal wurden minutiös erforscht, das Sehen selbst wurde zum Gegenstand der Filme. Nicht zuletzt sollte ein "Neues Sehen" dazu beitragen, die "Neuen Menschen" zu schaffen, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Barbara Wurm anlässlich eines Vortrags am IFK in Wien in einem Gastbeitrag. Die sowjetische Filmavantgarde blieb aber ambivalent - Selbstbefreiung und Disziplinierung lagen nahe beieinander.  
Wie wir uns waschen und wie wir uns sehen
Bild: Georg Wasner, Oesterr. Filmmuseum
Von Barbara Wurm

Politik und Film? Diese Frage klingt heute ziemlich abwegig. Nur zwei Kombinationen dieser beiden Bereiche scheinen denkbar: auf der einen Seite ein Kino, das die Machenschaften der Politik (vor allem der Politiker) entlarvt, auf der anderen Seite eine Politik, die sich über das affektive Potenzial von Gewaltfilmen sorgt und immer neue Möglichkeiten der Restriktion überlegt.

Es gab jedoch andere Zeiten, in denen das Kino selbst Politik machen wollte, politisch sein wollte - und das nicht nur in den späten wilden 1960er Jahren, die (weil wir runde Zahlen lieben und es jetzt genau vierzig sind) gerade nostalgisch rekapituliert werden. Denn nicht zufällig wandten sich die Protagonisten dieses politischen Kinos von 1968 der Avantgarde zu - und zwar vornehmlich der sowjetischen.

So gab es in der Nouvelle vague um Jean-Luc Godard die Gruppe "Dziga Vertov", während etwa Chris Marker den Filmzug-Pionier Aleksandr Medvedkin zu seinem Favoriten erklärte. Seither liegt die filmhistorische Aufarbeitung der sowjetischen Filmavantgarde nahe, will man die ersten wesentlichen Erfahrungen mit den politischen Möglichkeiten des Films erkunden.
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Vortrag in Wien
Barbara Wurm hält am Montag, 7. April 2008, 18 Uhr c.t. den Vortrag "Den Blick im Auge. ZuschauerInnenforschung in der sowjetischen Filmavantgarde".
Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über den Vortrag
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Avantgarde erprobte Neues Sehen für Neue Menschen
Vieles aus dieser Zeit ist bekannt: Sergej Eisensteins Idee der "Filmfaust" etwa, die den revolutionären Gestus als Konfrontation des Zuschauers mit radikalen Kontrastmontagen auslegte.

Oder Dziga Vertovs noch stärker auf das technische Potenzial des jungen Mediums Film setzendes Programm des "Filmauges", das auf eine nie da gewesene Weise in die Raum- und Zeitgebundenheit menschlicher Wahrnehmung eingreifen wollte, sie aufheben sollte.

Das neue Leben des "Neuen Menschen" sollte sich an einem "Neuen Sehen" ausrichten, das nicht zuletzt in den Kamera- und Schnittexperimenten der Avantgardisten erprobt wurde.
Die Leinwand als Schultafel
Nicht bourgeoise Eskapismen soll diese "leuchtende Filmleinwand" ermöglichen, sondern die Vermittlung von Wissen: naturwissenschaftlichem Wissen aller Art, aber auch politischem und sozialem Wissen, psychotechnischem und psychophysiologischem Körper- und Kollektivwissen - Wissen vom Menschen und damit Wissen von sich selbst.

Die Leinwand wird zur neuen "Tafel des Jahrhunderts", wie der Taylorist Ippolit Sokolov ebenfalls 1922 euphorisch schreibt. Auf ihr zeigt sich, "Wie man über die Straße geht" und gehen sollte (in einem gleichnamigen Kulturfilm von 1925), wie man sich wäscht und sich waschen sollte (in Aleksandr Medvedkins Film "Schütze deine Gesundheit" von 1929) oder auch, wie sich das "Verhalten von Mensch und Tier" als "Mechanik des Gehirns" beschreiben lässt (in Vsevolod Pudovkins gleichnamigem Film von 1925/26), der eine streng nerven-physiologische, "reflexologische" Wissensordnung zugrunde liegt.
Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle
 
Bild: Aleksej Gastev

Titel: "Analyse der Werkbankeinstellung des Arbeiters"; Beschreibung rechts oben: "Visuelle Einstellung"; Beschreibung links: "Nerven-Muskel-Koordinations-Einstellung"
aus: Aleksej Gastev: Trudovaja ustanovka [Arbeitseinstellung]. Moskva 1924


Die Leinwand soll als das fungieren, was der Begründer der sowjetischen Arbeitswissenschaften, Aleksej Gastev, zwei Jahre später die "visuelle Einstellung" nennt - eine Art virtuelle Form des Monitors, der dem Arbeiter ermöglicht, seine "Nerven-Muskel-Koordinations-Einstellung" von außerhalb zu kontrollieren und regulieren.

Das Ziel lautet Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle: Indem Blick und menschliches Auge getrennt werden in ein körperliches und ein apparatives Sehen, wird der Wahrnehmungsprozess virtualisiert. Das was die Arbeitshand tut, ist rückgekoppelt an einen außerhalb des Körpers positionierten Blickpunkt.
Sich selbst beim Sehen zuschauen
Rückkoppelung und Verwissenschaftlichung sind schließlich auch jene Kriterien, die das "Subjekt-Objekt" Mensch auf einer universalen Ebene definieren - auf der Ebene der Filmsehenden, der ZuschauerInnen. Markant ist nämlich, dass in all den genannten kleinen Formen des Films, dem Kultur- und Agit-Film, dem populär-wissenschaftlichen Film oder dem "Film-Memo", stets auch die Seh- und Verhaltensformen, Blicke und Reaktionsweisen des zu-sehenden Menschen verhandelt werden.

So wie in der Sowjetunion in den 1920er Jahren auf allen Ebenen ZuschauerInnen im Kino studiert und erforscht wurden - durch unzählige, soziologische Fragebogenaktionen, empirische Zuschauer-Beobachtungen im Kino-Saal oder breit angelegte wahrnehmungsphysiologische Studien -, werden auch von Filmkameras selbst und auf der Leinwand des Kinos ZuschauerInnen, ihre Reflexe, Gebärden und Gesten, ihr flüchtiges Verhalten zu einem utopischen wie idealen Datenmaterial, das in rigoroser Abwendung vom Ausdrucksrepertoire und den Posen des Schauspielers evaluiert wird.

Die neu sehenden Menschen schauen auf die Leinwand wie auf eine neue Tafel und sehen sich selbst beim Sehen zu.
Aus Selbstbefreiung wird Disziplinierung
Wenn Dziga Vertov nun in seinem experimentellen Manifest-Film "Der Mann mit der Kamera" (1929) die Zuschauer vor dem Film und im Film zeigt, und dieser Selbstbeobachtungsprozess radikal von einer Bildstörung unterbrochen wird - für einen kurzem Moment sieht man nur die Frequenzen des Signals selbst - so verweist er damit auf die ambivalenten politischen Implikate, die die intensive Sorge um den Zuschauer in der frühen Sowjetunion mit sich bringt.

Sie oszilliert zwischen Aufklärung und Erziehung, Disziplinierung und Regulierung, Kontrolle und Konditionierung. Immer wieder kippt das, was als Aufwertung und Autonomisierung des Subjekts gedacht war, ins Gegenteil um, etablieren sich da, wo es um Selbstorganisation und Selbstbefreiung gehen sollte, oft Strukturen der Selbstdisziplinierung und Regulierung.

Der Film musste sich, nachdem er nun sein Publikum erforscht hatte, entscheiden: Normierung oder Überschreitung - was politisches Agieren durch Zelluloid bedeutet, stand erstmals offen zur Debatte.
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Über die Autorin
Barbara Wurm ist IFK_Junior Fellow. Sie studierte Slavistik, Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien, Innsbruck, Moskau und München. Sie ist Doktorandin an der Freien Universität Berlin. Seit 2004 Lehraufträge in Berlin und an der Universität Wien. Tätigkeit als freiberufliche Kritikerin und Kuratorin.
->   Barbara Wurm, IFK
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->   Der Mann mit der Kamera (Film)
->   Film als Alltagschronik (oe1.ORF.at)
->   Aleksej Gastev (Wikipedia)
->   Dziga Vertov (Filmmuseum)
->   Sergej Eisenstein (Wikipedia)
 
 
 
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01.01.2010