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Stammzellen: Deutscher Bundestag lockert Regelung  
  Der Bundestag hat mit seinem Beschluss am 11. April 2008 die Regelungen zur Stammzellforschung in Deutschland deutlich gelockert. Als wichtigste neue Regelung wurde festgelegt, dass Wissenschaftler künftig mit embryonalen Stammzellen aus dem Ausland forschen dürfen, die vor dem 1. Mai 2007 gewonnen wurden. Bisher galt der 1. Jänner 2002 als Stichtag. Außerdem wurden deutsche Forscher straffrei gestellt, die im Rahmen von internationalen Projekten mit jüngeren Stammzellen des Menschen arbeiten.  
"Diese Entscheidung erhöht den Druck auf die österreichische Politik, endlich auch hierzulande eine gesetzliche Regelung zu finden", sieht Ulrich Körnter, Theologe und Mitglied der österreichischen Bioethikkommission, im Gespräch mit science.ORF.at Auswirkungen auf Österreich.
500 Zelllinien anstatt 21
Die bisherige Regelung, wonach Forscher in Deutschland nur Stammzellen verwenden durften, die vor dem Stichtag 1. Januar 2002 im Ausland gewonnen wurden, wurde von vielen Wissenschaftlern kritisiert: Diese älteren Zellen würden keine Spitzenforschung mehr zulassen, deshalb wurde schon lange ein neues Gesetz gefordert.

Mit der Ausweitung des Stichtags stehen deutschen Forschern in Zukunft nach Angaben des SPD-Abgeordneten René Röspel nun statt 21 etwa 500 Zelllinien zur Verfügung.
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346 Abgeordnete dafür
Für den Kompromiss stimmten in einem namentlichen Votum 346 von 580 anwesenden Abgeordneten. 228 stimmten mit Nein, sechs enthielten sich. Zuvor hatte der Bundestag mit jeweils großer Mehrheit sowohl einer völligen Freitage der Forschung wie auch einem kompletten Verbot eine Absage erteilt. Für die Abstimmungen war die Fraktionsdisziplin aufgehoben, die Abgeordneten sollten frei nach ihrem Gewissen entscheiden.
->   Der angenommene Antrag im Wortlaut (.pdf)
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Österreich: Regelung im Fortpflanzungsmedizingesetz
In Österreich finden sich im sogenannten Fortpflanzungsmedizingesetz die Stammzellen betreffenden Regelungen, allerdings sind sie explizit für die In-Vitro-Fertilisation formuliert: "Entwicklungsfähige Zellen (befruchtete Eizellen und daraus entwickelte Zellen, Anm.) dürfen nicht für andere Zwecke als für medizinisch unterstützte Fortpflanzungen verwendet werden", heißt es darin.

Untersuchungen und Behandlungen an diesen Zellen sind nur zulässig, wenn dies zur Herbeiführung einer Schwangerschaft nötig ist - Forschungen mit anderem Zweck sind in diesem Gesetz nicht geregelt, weitere Regelungen finden sich als Stückwerk verteilt über den gesamten Rechtsbestand.
Forschung an importierter Stammzelllinie
Die Herstellung von embryonalen Stammzellen für Forschungszwecke ist somit nicht gestattet. Anders sieht es allerdings mit importierten embryonalen Stammzelllinien aus. Dafür gibt es in Österreich keine gesetzliche Regelung, damit ist Forschung daran auch nicht verboten.

Tatsächlich wird am Institut für Molekulare Pathologie (IMP) nach Auskunft des IMP-Forschers Erwin Wagner seit November 2007 an aus den USA importierten embryonalen Stammzellen geforscht. Um Problemen vorzubeugen hatte das IMP im Vorfeld ein Rechtsgutachten erstellen lassen.
Lagerbildung, ähnlich wie in Österreich
Dem Beschluss waren heftige Diskussionen voraus gegangen, wobei die Lagerbildung an die Situation in Österreich erinnert: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - vergleichbar mit dem österreichischen Forschungsförderungsfonds FWF - hatte vehement die Lockerung des Gesetzes gefordert.

Insbesondere die Katholische Kirche hatte vor einer Veränderung des Stichtags gewarnt - in Österreich hatte zuletzt im März 2008 die Bischofskonferenz gegen die Verwendung von embryonalen Stammzellen für die Forschung ausgesprochen.
Zwei Botschaften für Österreich
Der nun gefasste Beschluss sei ein klassischer Kompromiss zwischen den Extrempositionen des totalen Verbots und der kompletten Freigabe, den man vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte verstehen könne, interpretiert der evangelische Theologe Ulrich Körtner, der auch Mitglied der österreichischen Bioethikkommission ist, die Bundestagsentscheidung.

Damit habe man nicht nur der Forschung zu mehr Freiheit verholfen, sondern zwei - auch für die ungeklärte Lage in Österreich - wichtige Botschaften ausgesandt:

Erstens fand die Position, dass die Forschung an embryonalen Stammzellen unnötig sei, weil man auch mit adulten, reprogrammierbaren Stammzellen auskommen könne, keine Mehrheit. "Die Abgeordneten war offenbar überzeugt, dass man noch auf absehbare Zeit Forschung an embryonalen Stammzellen brauchen wird", so Körtner.

Und zweitens könne man davon ausgehen, dass die Verschiebung des Stichtags momentan die Diskussion besänftigt hat, Deutschland - wie Österreich - aber nicht um eine grundlegende Entscheidung für oder gegen die Forschung an embryonalen Stammzellen herumkommen werde.
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Liberale und restriktive Länder in Europa
Großbritannien hat in Europa die liberalsten Regelungen zur Stammzellforschung. Bereits seit 2001 ist das Klonen eines menschlichen Embryos erlaubt, um Stammzellen zu gewinnen. In Spanien ist die Forschung an embryonalen Stammzellen seit einem Gesetzesbeschluss am 4. Juli 2007 erlaubt. Die Wissenschaftler verwenden überzählige Embryonen aus der künstlichen Befruchtung, wofür jedoch ein strenges Antragsverfahren gilt. Auch Belgien hat eine sehr liberale Regelung: Seit 2003 kann an Embryonen innerhalb von 14 Tagen nach der Befruchtung geforscht werden. Strikte Verbote für jede Art von Forschung an embryonalen Stammzellen gibt es hingegen in Polen und Irland.
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Stellungnahme Bioethikkommission Ende 2008
Die Diskussion in Österreich wird spätestens mit einer Stellungnahme der Bioethikkommission zum Thema Stammzellforschung angefacht werden. Damit sei Ende 2008 zu rechnen, erklärt Christiane Druml, Vorsitzende der Kommission, gegenüber science.ORF.at.

Sie persönlich sei für eine klare gesetzliche Regelung zur Stammzellforschung, eventuell wäre auch ein größerer Schritt in Richtung generellem Forschungsgesetz sinnvoll, in dem sich ein Teil den Stammzellen widmet, so Druml.

Ob die Politik die Anregungen der Kommission zum Anlass für ein Gesetz nimmt, könne sie nicht vorhersagen. Klar sei aber: Die Entscheidung in Deutschland habe gezeigt, dass das Thema auf jeden Fall aktuell sei.

Elke Ziegler, science.ORF.at/APA/dpa/AFP, 11.4.08
->   Alle Beiträge von Ulrich Körtner in science.ORF.at
->   Österreichische Bioethikkommission
->   Das Stichwort "Stammzellen" im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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01.01.2010