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Theodor Fontane: Die Kunstgriffe eines Wanderers  
  Seit der deutschen Wiedervereinigung erfreut sich Theodor Fontane einer wachsenden Beliebtheit. Tausende folgen den Reisebeschreibungen des Schriftstellers durch das Berliner Umland. Dass Fontane vor 100 Jahren weniger gewandert ist, wie er vorgab, und mehr die neuen Verkehrsmittel genutzt hat, erzählt die Germanistin Anke Kramer in einem Interview.  
Sie hat auch die "Kunstgriffe" des Schriftstellers analysiert: Er vermittle seinen Lesern den Eindruck, dass die Natur quasi aus sich selbst heraus Geschichte(n) erzählt. In Wirklichkeit hat sie Fontane selbst in die Natur hineingelegt - durch intensive historische Recherche vor seinen Reisen.
Bild: ORF
Theodor Fontane in einem Bild von Max Liebermann
Theodor Fontane kennen die meisten als Autor von Effi Briest, er ist aber auch ziemlich lange durch die Mark Brandenburg gewandert. Was hat er da genau gemacht?

Seit 1859 ist Fontane - manchmal mehrmals pro Monat - aus Berlin in die Umgebung gefahren, es gab damals zum ersten Mal die dazu nötigen Verbindungen mit Eisenbahn, Pferdebahn oder Dampfschiffen.

Fontane hat sich bestimmte Orte ausgesucht, die historisch interessant waren und sich dann sehr gut vorbereitet, Quellen studiert etc. Dann ist er dorthin gefahren und hat danach seine Artikel geschrieben.

Die Artikel hat er dann in Feuilletonbeilagen von Tageszeitungen veröffentlicht. Für Fontane waren die "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" sein zentrales Lebenswerk, er hat rund 40 Jahre von ihnen gelebt.
Als aufmerksamer Zeitungsleser hat man also immer gewusst, wo Fontane in letzter Zeit wieder herumgewandert ist.

Ja, bzw. wo er vorgegeben hat, dass er herumgewandert sei.
D.h. er war gar nicht dort?

Doch, aber es ist Fiktion, dass er zufällig auf Orte gestoßen ist, wie er das selbst gerne vermittelt. Und die eigentliche Reise war eher ein Vorfahren. Er tut zwar immer so, als ob er selber gewandert wäre, und betont auch wie wichtig das sei, in Wirklichkeit ist er zumeist aber in der Pferdekutsche gesessen.

Wenn er sie doch einmal verlassen hat und eine halbe Stunde herumgewandert ist, hat er nachher Briefe an seine Frau geschrieben, wie anstrengend das alles ist.
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Vortrag in Wien
Anke Kramer hält am Montag, 21. April 2008, 18 Uhr c.t. den Vortrag "Ortsgeister und Massenmedien. Zur Konstruktion des Lokalen in Fontanes 'Wanderungen'".
Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über die Veranstaltung (IFK)
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Was macht die Lektüre des Werks heute noch lesenswert?

Zum einen ist der Text schon eine Zumutung: 2.000 Seiten, völlig uneinheitlich geschrieben, sperrig, wenig spannend. Fontane konfrontiert seine Leser mit seitenlangen Auszügen aus Korrespondenzen oder Ausschnitten aus Tagebüchern.

Zugleich aber gibt es seit dem Mauerfall enorm viele Neuauflagen, und die werden auch tatsächlich gelesen von Menschen, die damit die Region entdecken wollen. Und das funktioniert, weil Fontane nicht nur Ortsbeschreibungen und geschichtliches Wissen liefert, sondern dieses Wissen immer wieder über poetische Kunstgriffe interessant macht.
Bild: dpa
Ufer des Scharmützelsees im brandenburgischen Bad Saarow: Das Gewässer wurde von Fontane auch das "Märkische Meer" genannt.
Wie verfährt Fontane dabei?

Seine persönlichen Eindrücke versuchen immer das Wissen, das er aus historischen Quellen zitiert, zu legitimieren. Dieses Wissen schreibt er nicht dem Wanderer zu, sondern der Landschaft selbst. Und da kommen die Ortsgeister ins Spiel. Fontane hat den Kunstgriff verwendet, der Natur selbst das Bewahren der Geschichte zuzuschreiben. Er vermittelt den Eindruck, dass man nur hinfahren muss an einen Ort und schon erschließt sich einem, was aus der Natur selbst kommt.

Ein Beispiel: In Markquardt gibt es die Sage einer schwarzen Gräfin, die nicht zur Ruhe kommt. Diese Spukgeschichte wird zuerst mit allerlei historischen Zusatzinformationen erzählt und als der Erzähler ganz zum Schluss zum Schloss zurückkehrt, hört er plötzlich Türen klappern und ein Rauschen im Schloss, und das ist natürlich die schwarze Gräfin.

Oft ist es gar nicht der Erzähler, der die Geister spuken sieht, sondern er berichtet von anderen, die den Spuk gesehen haben. Immer wieder sind es Leute aus der ansässigen Bevölkerung, die ihr Wissen mündlich weitergeben und die Fontane verwendet als Auskunftgeber der Wirklichkeit. Dadurch versucht er zu zeigen, dass das Wissen vor Ort vorhanden ist.
Ist das nicht ein Taschenspielertrick? Er sagt, das Wissen ist in der Landschaft und in den Menschen gespeichert, bereitet sich zuvor aber historisch akribisch vor, um danach das zu entdecken, was er sich gerade angelesen hat?

Auf jeden Fall. Und es ist auch sehr stereotyp. Der typische Kapitelaufbau sieht so aus: Der Wanderer kommt an den Ort, dann folgen zehn Seiten Beschreibungen oder auch Auszüge aus Korrespondenzen, und wenn der Wanderer dann vom Ort des Geschehens zurückkehrt, taucht die Spukfigur auf. Und das überrascht nach einiger Zeit nicht mehr unbedingt.
Im Vorwort der Wanderungen vergleicht Fontane Brandenburg mit hässlichen Frauen, er fand Brandenburg also offenbar nicht sehr attraktiv?

Das ist eine Authentifizierungsstrategie, die in modernen Reiseführern gang und gebe ist. Dadurch wird dem Leser suggeriert, dass hier eine Landschaft dargestellt wird, die touristisch noch völlig unerschlossen ist. Das macht auch Fontane, indem er sagt, Brandenburg sei die Streusandbüchse des deutschen Reichs - das spielt auf den Sandboden der Gegend an -, wo es nichts Spektakuläres zu sehen gebe.

Um so überraschender ist es dann, wenn der Wanderer die landschaftliche Schönheit der Gegend sichtbar macht, die heute ja gepriesen wird, die vielen Seen etc. Fontane war jedenfalls bemüht, seine Leser auf eine Reise zu unberührten Gegenden einzuladen.
Mehr als 100 Jahre später ist auch Brandenburg touristisch erschlossen. Wird Fontane heute als Standortvorteil genutzt?

Auf jeden Fall. Seit dem Mauerfall leben zahlreiche Buchhandlungen davon, Neuauflagen seiner "Wanderungen" zu verkaufen. Viele Menschen wandern heute durch Brandenburg mit Fontane im Gepäck, manche schreiben angeregt von ihm ihre eigenen Erlebnisse auf.

Es gibt kaum ein Gasthaus, das nicht mit einem Lieblingsgericht von Fontane aufwartet, oft mit deutlich aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten auf der Speisekarte. Fontane schreibt über Plätze, die ihm besonders gefallen haben, die schönen Bäume und den herrlichen Ausblick, und auch über Wirtshäuser, die ihm gar nicht gefallen haben. Die Stellen über Plätze und Bäume werden in den Speisekarten zitiert, jene über das Wirtshaus fehlen natürlich.
Wer heute von Berlin nach Brandenburg fährt, bemerkt dort vor allem die Nazis, die sich auch an der schönen Landschaft freuen. Spießt sich das mit dem Bild der bürgerlichen Touristen mit Fontane im Gepäck?

Die Nazis lesen Fontane wirklich nicht. Aber die Herren, die hinter ihnen stehen, vielleicht schon. Fontane war, als er mit seinen "Wanderungen" begann, gerade in einer sehr konservativen Phase, hat für die Kreuz-Zeitung geschrieben, ein antisemitisches und antidemokratisches Blatt.

Die "Wanderungen" sind auch mit dem Anspruch geschrieben worden zu zeigen, dass Brandenburg die Kernregion von Preußen ist und dass dessen große Militärtradition hier ihre Wurzeln hat. Aber daneben finden sich auch ganz andere Töne.

Die "Wanderungen" sind ein zu komplexer Text, als dass sie für eine bestimmte politische Position vereinnahmt werden könnten. Im Alter ist Fontane zusehends demokratischer und liberaler geworden, fast schon sozialdemokratisch, und auch das spiegelt der Text. Deswegen kann man die "Wanderungen" nicht pauschal beurteilen.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 21.4.08
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Anke Kramer
Anke Kramer studierte Germanistik und Romanistik an den Universitäten Tübingen und Aix-Marseille. Seit 2006 ist sie Research Associate am Projekt "Nature and Environment in Modern German Literature" in Newcastle upon Tyne, England. Zur Zeit ist sie Junior Fellow am IFK in Wien.
->   Anke Kramer, University of Newcastle
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->   Wanderung durch die Mark Brandenburg (Projekt Gutenberg)
->   Theodor-Fontane-Gesellschaft
->   Fontane-Archiv im Brandenburgischen Landeshauptarchiv
->   IFK
 
 
 
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01.01.2010