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Germanistin Klüger: Deutsch nach der Shoah  
  Die jüdische Germanistin und Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger wurde 1931 in Wien geboren, als Kind überlebte sie drei Konzentrationslager. In ihrer mehrfach preisgekrönten Autobiographie "weiter leben" von 1992 setzte sie sich mit ihrer Jugend im antisemitischen Wien, dem Alltag in den Konzentrationslagern, ihrer Emigration in die USA und der teilweisen Rückkehr nach Deutschland auseinander.  
Ihr Verhältnis zur deutschen Sprache ist bis heute ambivalent und damit steht sie stellvertretend für eine Generation vertriebener Juden. Ganz "zu Hause" fühlt sich die zweisprachige Wissenschaftlerin in keiner Sprache, auch nicht im Wienerischen.
In welcher Sprache träumen Sie?

Ruth Klüger: Ich träume nicht in Worten. Wenn ich an meine Träume denke, fallen mir Bilder ein und nicht Worte. Vielleicht stimmt das nicht ganz. Aber ich bin mir jedenfalls nicht bewusst, dass ich in einer Sprache mehr als in einer anderen träume.
Bild: media wien
Ruth Klüger
Und im Wachzustand?

Deutsch und Englisch sind ziemlich gleich für mich. Meine Muttersprache ist Deutsch, das sind Kindheitsbrocken, die sich nicht duplizieren lassen. Ich habe einen deutschen Akzent im Englischen und einen englischen Akzent im Deutschen. Und in Göttingen höre ich oft, ich hätte so einen charmanten Wiener Akzent.

Wien ist eigentlich der einzige Ort der Welt, wo die Menschen so sprechen wie ich. Das ist schon ein Grund immer wieder hierher zu kommen, sich zu versichern, dass es so einen Ort gibt.
Ist Wienerisch sozusagen Ihr zu Hause?

Ja, aber nicht ganz. Ich komme ja aus einer älteren Generation und was ich spreche, wird mir oft versichert, ist Schönbrunnerdeutsch. Wenn die Leute wirklich tiefes Wienerisch sprechen, verstehe ich das nicht. Und wenn ich versuche, etwas im Dialekt zu sagen, werde ich ausgelacht, weil man zuletzt vor 30 Jahren so gesprochen hat. In dem Sinne bin ich in gar keiner Sprache ganz zu Hause.
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Ruth Klüger war vor kurzem Gast der Veranstaltung "Studium und Gebrauch der deutschen Sprache nach der Shoah" im Rahmen der Reihe "Abschiede 1938. Die Vernichtung des geistigen Wien" von IFK - Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, den Wiener Vorlesungen und der Wienbibliothek im Rathaus.
->   Biographie Ruth Klüger (Wiener Vorlesungen)
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Wie hat sich das Verhältnis von Deutsch und Englisch nach Ihrer Auswanderung in die USA gewandelt?

Ich habe natürlich besser Englisch gelernt und wollte Deutsch endlich hinter mir lassen. Ich wollte es nicht vergessen, aber auch nicht verwenden. Und als ich dann Germanistin wurde, relativ spät im Leben, mit 31 Jahren, habe ich mich dem Deutschen wieder zugewendet.
Die Shoah hat für die europäischen Juden aber nachvollziehbar einen Bruch mit der deutschen Sprache bedeutet.

Ja, ich bin da kein untypisches Beispiel für meine Generation. Vor der Shoah gab es eine Zuwendung zur deutschen Sprache, die bei den europäischen Juden die beliebteste war; danach eine Abwendung und Verachtung, die aus der Enttäuschung entstanden ist, dass die geliebte Sprache zur Feindessprache wurde.

Ich komme gerade an diesen Wendepunkt. Vor 70 Jahren war ich sechs Jahre alt, zu einem Zeitpunkt, an dem das Sprachbewusstsein so richtig erwacht. Ich habe damals natürlich nur Deutsch gekonnt und hatte dann jahrelang nichts, was mir irgendwann einen Freiraum gegeben hätte als deutsche Gedichte und deutsche Literatur.

Und gleichzeitig war mir dieser Ort, diese Sprache eine Art Gefängnis, weil ich keine andere Sprache hatte und aus ihr ausbrechen wollte. Und das Englische, das ich dann in New York gelernt habe, und die englische Literatur, für die ich sofort begeistert war, die hat mir diese Freiheit gegeben.
Der Gebrauch der deutschen Sprache ist in Israel weiter ein umstrittenes Thema. Angela Merkel war vor Kurzem erst die dritte Person, die vor den Abgeordneten der Knesseth auf Deutsch gesprochen hat, einige haben den Saal verlassen. Verstehen Sie die Reaktion?

Ja natürlich, aber um Verständnis geht es gar nicht. Ich finde, die Dinge liegen ein bisschen komplizierter. Wenn Sie an die großen Juden denken des 19. und 20. Jahrhunderts, die haben alle Deutsch gesprochen. Und zwar nicht nur die Literaten wie Heine und Kafka, sondern auch Leute wie Einstein, Marx und Wittgenstein.

In allen Branchen des Wissens und Könnens, wo sich Juden ausgezeichnet haben, haben sie vor allem Deutsch gesprochen. Es ist etwas an dieser Sprache, das diesen Köpfen gemäß war. Und dann kam die Shoah, und es wendet sich total. Das ist ein Bruch, wie er noch nie dagewesen ist.

Heutzutage ist Deutsch wohl nicht mehr verpönt, außer vielleicht für ein paar Abgeordnete in Israel, aber das Interesse hat enorm nachgelassen. In Amerika haben wir immer weniger Germanistikstudenten, manche Unis und viele Mittelschulen bieten Deutsch gar nicht mehr an. Das ist eigentlich ein Graus, aber so ist es. Das ist zum einen die Folge der beiden Weltkriege, zum anderen hat es auch damit zu tun, dass die Wissenschaftssprache, die früher weitgehend Deutsch war, mittlerweile Englisch ist.
->   Audio: Ruth Klüger über die Ambivalenz der deutschen Sprache
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Neues Buch
Im Herbst wird von Ruth Klüger im Verlag Zsolnay das Buch "Unterwegs verloren. Erinnerungen" erscheinen, das vor allem ihre Germanistenkarriere, Ehe und Kinder behandelt.
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Welche Erfahrungen haben Sie mit den beiden Sprachen in der Wissenschaft gemacht?

Es gibt in beiden Sprachen Ausdrücke, die sich nicht übersetzen lassen. Und damit muss man irgendwas machen. Es gibt im Englischen z.B. den wunderschönen Ausdruck "mixed metaphor". Das deutsche-nichtdeutsche und hochtrabende Wort dafür ist Katachrese. Man kann Studenten sagen "Don't mix your metaphors!", aber doch nicht "Katachresen Sie nicht!".
Gibt es weitere Unterschiede der Sprachen in der Wissenschaft?

Englisch ist viel reichhaltiger, der Wortschatz viel größer. Und vor allem sind die letzten wissenschaftlichen Errungenschaften alle geprägt vom Englischen, die Sprache besonders der Technologie ist Englisch. Ich glaube aber, dass das von der Philosophie stark geprägte Deutsch von seiner Grammatik her Möglichkeiten zu einer strafferen Formulierung zulässt. Das moderne Deutsch ist weitgehend von Philosophen geschaffen worden und das hat seine Vorteile.
Erachten Sie Ihre Zweisprachigkeit als einen Vorteil?

Ich glaube, die meisten zweisprachigen Menschen sehen das wie ich: Es ist ein gewisses Hindernis in zwei Sprachen zu arbeiten, es kommen einem die falschen Wörter, die andere Sprache funkt dazwischen. Man hat zwar zwei Vokabulare, aber sie sind doch nicht ganz das Gleiche.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 2.5.08
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Schwerpunkt: "Sprechen Sie Wissenschaft?"
"Sprechen Sie Wissenschaft? Wissenschaftssprache im öffentlichen Dialog" heißt eine Initiative von BMWF und Ö1 Wissenschaft. Forscher und Forscherinnen verschiedener Disziplinen reflektieren dabei in science.ORF.at in Gastbeiträgen und Interviews über den wissenschaftlichen Sprachgebrauch und den Bedarf an Wissenschaftskommunikation.
->   Alle Beiträge zu "Sprechen Sie Wissenschaft?"
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->   IFK
->   science.ORF.at-Archiv zum Thema Nationalsozialismus
 
 
 
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01.01.2010