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Traumabehandlung jenseits von Täter-Opfer-Logik  
  Wer nach Gewalttaten ein Trauma erlitten hat, braucht psychische Hilfe. Auch wenn es nahe liegt: Die simple Täter-Opfer-Logik hilft dabei oft nicht weiter. Eine Form der Psychotherapie, die relationale Psychoanalyse, versucht ein "Jenseits" dieser Logik zu finden, das mehr Aussicht auf Heilung zulässt.  
Eine Vertreterin dieser Schule ist die renommierte US-Psychoanalytikerin Jessica Benjamin. Sie betont in einem science.ORF.at-Interview die Wichtigkeit der wechselseitigen "Anerkennung" für den Heilungsprozess.
Bild: Jessica Benjamin
Jessica Benjamin
Kommen zu Ihnen eher Täter oder Opfer?

Mörder suchen uns nicht auf. Alle Menschen, die eine Psychoanalyse machen, haben das Gefühl sowohl Täter als auch Opfer zu sein. Es kommt niemand zu uns, der sagt: "Heilen sie mich bitte, weil sonst muss ich meine Tochter wieder vergewaltigen."

So gut wie alle haben aber das Gefühl, von ihren Eltern enttäuscht worden zu sein, viele auch umgekehrt, dass sie ihre Eltern enttäuscht haben. Insofern haben die Patienten der Psychoanalyse das Gefühl sowohl Enttäuscher zu sein als auch Enttäuschte, Verletzer und Verletzte.
Sie versuchen den Menschen etwas zu bieten, das über diese Opfer-Täter-Beziehung hinausweist, sie nennen das etwas Drittes - was kann man sich darunter vorstellen?

Die Opfer-Täter-Beziehung ist eine paradigmatische psychische Einstellung. Menschen erlangen sie, weil sie das Gefühl haben, dass die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse eine Machtfrage ist, und dass es nicht auf wechselseitige Beziehungen ankommt.

Diese Ansicht hat ihre Grundlage in der frühen Säuglingszeit, wo die primäre Bindung auf irgendeine Weise gestört wird - z.B. weil die Bedürfnisse des Kindes die Mutter zu überwältigen scheinen. Weil sie ihre eigenen Bedürfnisse vielleicht schlecht befriedigt sieht, versucht sie sich vor den Bedürfnissen des Kindes zu schützen, das ganze wird ihr zuviel und sie bekommt den Eindruck, dass das kleine Kind Macht über sie hat.
->   Audio: J. Benjamin über die Täter-Opfer-Beziehung
Was ja ein Gefühl ist, das die meisten Mütter und manche Väter kennen, wenn sie monatelang in der Nacht aufstehen müssen und nicht schlafen können.

Ja, aber was die Mutter davon abhält zu glauben, dass das Kind sie tyrannisch unterdrückt, ist das Wissen, dass es für ein Kind natürlich ist, in der Nacht aufzuwachen und zu trinken.

Wenn die Mutter zu verstört ist, verliert sie diese Perspektive. Normalerweise sollte sie das Gefühl haben, dass diese Perspektive - und hierin liegt das Dritte - die objektive Notwendigkeit ist, dass ein Kind so gebaut ist. Und wenn das die objektive Notwendigkeit ist, unterwirft sie sich nicht dem Kind, sondern diesem Dritten.

Das Dritte ist ein Prinzip - in dem Fall, die Anpassung an die Bedürfnisse eines hilflosen Wesens, für das ich verantwortlich bin.
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Jessica Benjamin war am 6. Mai Gast der Sigmund Freud Vorlesung 2008 und sprach zum Thema "Injury and Acknowledgement: A Psychoanalytic Perspective on Overcoming Victimhood in Psychotherapeutic Treatment".
->   Die Veranstaltung (Sigmund Freud Privatstiftung)
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Gibt es so ein Drittes auch nach Verbrechen? Oder anders gefragt: Ist Versöhnung nach Verbrechen möglich?

Ich würde Verbrechen und Versöhnung nicht in Zusammenhang bringen, sondern eher Versöhnung und Konflikt. Versöhnung hat eine spezifische Bedeutung im politischen Rahmen, etwa in Südafrika, wo nach dem Ende der Apartheid Wahrheitsfindung und Versöhnung zusammengehörten.

Den Begriff Versöhnung benutze ich auch nicht so gerne wie Anerkennung - was aber gleich auf ein Übersetzungsproblem verweist. Im Englischen gibt es dafür zwei Wörter: recognition und acknowledgement. Recognition meint eine viel breitere Idee von Anerkennung, acknowledgement ist viel spezifischer: Man gibt öffentlich zu, dass man jemanden verletzt oder Leid zugefügt hat, man spricht aus, dass man dafür verantwortlich ist, man bezeugt und entschuldigt sich.
Wie funktioniert so ein Prozess dieser Anerkennung im Rahmen einer Psychoanalyse?

Stellen Sie sich einen Patienten in der Psychoanalyse vor, der einen Fehler oder ein Versäumnis des Analytikers bemerkt. In der klassischen Psychoanalyse war es so, dass der Analytiker so etwas nicht zugibt, schweigt und dem Patienten die Frage stellt, was das eigentlich für ihn bedeutet. Ich halte das für ein Schummeln, das gar nicht notwendig ist.

Der Psychoanalytiker muss seine Autorität nicht durch die Illusion seiner Fehlerlosigkeit aufrechterhalten, er hat wie der Patient ein inneres Leben, über das er nicht komplett verfügt. Was ihn auszeichnet, ist die Fähigkeit zur Selbstreflexion und zur Verantwortung, die Bedeutungen der Gefühle der Patienten zu erforschen wie die eigenen.
Die relationale Psychoanalyse betont also die Subjektivität der Analytiker?

Es geht nicht darum, dass der Psychoanalytiker über sich spricht, sondern um den psychischen Zusammenhang von zwei Menschen in einem Raum. Die Vorstellung eines Psychoanalytikers, der außerhalb steht, nur beobachtet und deshalb klar sehen kann, ist absolut lächerlich und eine sehr veraltete Wissenschaftsperspektive. Die Wissenschaft weiß längst, dass der Beobachter eine Wirkung auf das Beobachtete hat und umgekehrt. Für die Psychoanalyse gilt das ganz besonders. Dass wir uns affizieren lassen durch die Patienten, ist unsere Methode.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 7.5.08
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Jessica Benjamin praktiziert als Psychoanalytikerin in New York und unterrichtet am Postdoctoral Psychology Program in Psychoanalysis and Psychotherapy an der New York University. Sie ist Mitbegründerin der Internationalen Vereinigung für relationale Psychoanalyse und Psychotherapie und des Stephen Mitchell Center for Relational Studies in New York.
->   Postdoctoral Psychology Program, New York University
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01.01.2010