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Gerechtigkeit: Eine Frage der Emotionen  
  Menschen brauchen dringend Nahrungsmittel, allerdings leben sie weit verstreut. Sollen alle mit Nahrung versorgt werden, bedeutet das, dass ein Teil aufgrund der langen Wege verdirbt. Was soll man tun: Allen zu essen geben, dafür bekommen aber alle weniger, oder wenige versorgen, die dafür mehr bekommen? Gehirnaufnahmen zeigen, dass Menschen Gerechtigkeit für alle bevorzugen und diese Entscheidung im Gehirn ihre emotionale Wurzel hat.  
Ming Hsu von der Universität Illinois und Kollegen klinken sich mit ihrer Studie in eine seit Jahrhunderten laufende Diskussion über das große Thema der Verteilungsgerechtigkeit ein. Mit Daten aus Gehirn-Scans unterstützen sie jene Theorien, die von einem dem sozialen Zusammenleben unterliegenden, generellen Sinn für Gerechtigkeit ausgehen.
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Die Studie "The Right and the Good: Distributive Justice and Neural Encoding of Equity and Efficiency" ist am 8. May 2008 in "Science Express" erschienen (DOI:10.1126/science.1153651).
->   "Science Express"
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Diskussion seit der Antike
Gerechtigkeit ist eines jener interdisziplinären Themen, an dem sich seit der Antike zahllose große Denker mit verschiedensten Hintergründen abgearbeitet haben. So unterschiedlich die Zugänge etwa von Moralpsychologen, Gesellschaftstheoretikern und Ökonomen auch sein mögen, letztlich drehte sich die Debatte meist um zwei zentrale Fragen:

Reicht es, dass der Wohlstand generell zunimmt, auch wenn der Anstieg durch die Nutzenmaximierung jedes einzelnen zustande kommt, oder braucht es eine Einrichtung, die für die gerechte Verteilung von Gütern zwischen den Individuen sorgt? Und wird eine gerechte Entscheidung nur durch die Vernunft gesteuert oder liegen ihr Emotionen wie Empathie zugrunde?
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Von Platon bis John Rawls
Platon und Kant gingen von einer rationalen Grundlage von Gerechtigkeit aus: Sie beruhe auf wohlüberlegten Entscheidungen. Den Moralphilosophen David Hume und Adam Smith zufolge lässt sich Gerechtigkeit hingegen nicht logisch erschließen. Der Ökonom John Mill glaubte, dass über die Nutzenmaximierung des Einzelnen Gerechtigkeit für alle entstehen würde, während laut Philosoph John Rawls Gerechtigkeit "die erste Tugend sozialer Institutionen" ist.
->   Mehr über Gerechtigkeit (Wikipedia)
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Was macht Gerechtigkeit im Gehirn?
Auch wenn die Literatur zu diesen Fragen ganze Bibliotheken füllt: Was im Gehirn beim Treffen von subjektiv als gerecht empfundenen Entscheidungen passiert, sei bisher kaum untersucht worden, skizzieren die Forscher ihre Motivation.

Ihre Versuchspersonen, 26 Männer im Alter zwischen 29 und 55, steckten sie in folgendes Dilemma: Kinder in einem Waisenhaus in Uganda sollen eine bestimmte Menge Nahrung bekommen, aufgrund widriger Umstände muss die Gesamtmenge aber reduziert werden. Die Probanden mussten anhand verschiedener Szenarien entscheiden, wie die Kürzung die einzelnen Kinder treffen sollte, wobei sie grundsätzlich eine Wahl zu treffen hatten: Bekommt einer um 15 Mahlzeiten weniger oder zwei um insgesamt 18.
Zwei Kinder mussten verzichten
"Unsere Versuchspersonen haben sich alle für die ihrer Empfindung nach gerechtere Variante entschieden, das heißt zwei Kinder mussten auf einen Teil ihrer Nahrung verzichten", so Studienleiter Ming Hsu.

Begleitend zeigte die Magnetresonanz des Gehirns, dass verschiedene Areale aktiviert werden, je nachdem ob Gerechtigkeit oder Nutzenmaximierung die präsentierten Szenarien dominierte. Während der Sinn für Gerechtigkeit in der Inselrinde, einem Teil der Großhirnrinde, aufleuchtete, reagierte das Putamen, ein Kerngebiet des Großhirns, auf das Nutzenkalkül.
Mit Emotionen verknüpft
Wo sich die Reaktion auf Gerechtigkeit spiegelt, lasse weiter gehende Rückschlüsse zur neuronalen Einbettung der Empfindung zu, schreiben die Forscher: Die Inselrinde spielt eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung von körperlichen Empfindungen, aber auch von Emotionen.

Auf eine ewige Frage des Nachdenkens über Gerechtigkeit scheint mit Hilfe von modernen Technologien eine Antwort gefunden worden sein: Eine gerechte Entscheidung scheint weniger vernunftgesteuert, sondern emotionsgetrieben zu sein. Auf die Beantwortung der anderen großen Frage, nämlich woher der Hang zu Gerechtigkeit kommt und wodurch sie gesamtgesellschaftlich entsteht, muss weiter gewartet werden.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 11.5.08
->   Ming Hsu
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01.01.2010