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Erster Weltkrieg: Als Mensch und Maschinen verschwammen  
  Heuer jährt sich das Ende des Ersten Weltkriegs zum neunzigsten Mal. Um den Fluss Isonzo fanden dabei von 1915 bis 1917 zwölf blutige Schlachten zwischen Österreich-Ungarn und Italien statt. In dem relativ kleinen Kampfgebiet sind die Unterschiede zwischen Technik und Mensch verschwommen, schreibt der Kulturwissenschaftler Lutz Musner in einem Gastbeitrag. Er meint, dass in diesem ersten hoch technisierten Krieg die Handlungslogiken der Waffen gleichsam in das Innere der Soldaten transplantiert wurden.  
Die Dinge des Krieges
Von Lutz Musner

Oberhalb jenes romantischen Fischerdörfchens an der Adria, in dem Rainer Maria Rilke seine berühmten Duineser Elegien schrieb, fand zwischen Sommer 1915 und Herbst 1917 am Fluss Isonzo ein gnadenloser Krieg statt.

Italienische und habsburgische Truppen traten in einem mörderischen Experiment gegeneinander an, in dem zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die neuen Maschinen des Todes eine derartige Katastrophe auslösten, sodass Gabriele D'Annunzio gar den Vergleich zu Dantes Inferno wagte.
Waffengewalt und Hölle der Topographie
Noch vor den Materialschlachten an der Westfront zeigte sich hier die radikale Gewalt der Maschinengewehre, schweren Kanonen, Flammenwerfer und Gasgranaten. Aber nicht nur die neuen Dinge des Krieges waren für diese Apokalypse verantwortlich, auch der Schauplatz - eine karge, wasserarme Karstlandschaft - trug wesentlich dazu bei, dass das Zusammenspiel von Menschen und Maschinen eine Dynamik entfalten konnte, die alle bislang gültigen Vorstellungen vom Krieg obsolet machte.

Der österreichische Offizier Fritz Weber wusste in seinen Memoiren davon zu berichten, dass der harte Muschelkalk diesen Kampfboden in eine unvorstellbare Hölle verwandelt hat, weil er nicht in Trichtern aufreißt, sondern zu Schottergarben hochschmettert, die die Menschen zu unförmigen Klumpen zerschlagen.

Wenn man diese fatalen Wirkungen der Dinge, der Soldaten und der Topographie in den zwölf Isonzo-Schlachten ernst nimmt, wird man Militärgeschichte auch als eine Dinggeschichte schreiben müssen.
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Veranstaltung zum Thema
Am 15.5., 18 Uhr findet am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften ein Podiumsgespräch renommierter Weltkriegsforscher statt: Michael Geyer (University of Chicago, Jay Winter (Yale University), Bernd Hüppauf (New York University), Gerhard Hirschfeld (Universität Stuttgart), Helmut Konrad (Universität Graz).
->   Mehr über die Veranstaltung (IFK)
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Produktionseinheiten des Todes
In der Perspektive von Bruno Latours Techniksoziologie kann man nämlich davon sprechen, dass im Karst neuartige Netzwerke von Menschen, Dingen und Landschaften entstanden sind und dass automatische Waffen als Hybride von Ingenieurskunst und Kriegstaktik eine mörderische Zirkulation erzeugt haben, die Menschen und Maschinenwaffen zu Produktionseinheiten des Todes verschmolzen haben.

Die an der Isonzo-Front massenhaft eingesetzten Maschinengewehre haben nicht einfach nur Feuerkapazitäten multipliziert. Sie haben vielmehr Tötungswerkstätten entstehen lassen, die die Bedingungsmannschaften mit den Munitionsdepots, Transportnetzen, Armeestäben, Rüstungsfabriken und Konstruktionsbüros zu einem großen Produktionsverbund zusammenschlossen.
Der erste Maschinenkrieg
Die in den Maschinengewehren konzentrierte Feuerkraft und die Statistik ihrer Eigenstreuungen wurden zu einer auf Mathematik beruhenden Technik des Massensterbens kombiniert. Die so vollzogene Verschmelzung von rechnerischem Kalkül und soldatischer Subjektivität verwischte die Unterschiede zwischen Waffen und Menschen und verschob die Logik der Technik in die Psyche der Soldaten.

Die Dinge des ersten Maschinenkrieges integrierten menschliches Verhalten in Arrangements von Sachzwängen und schufen sich selbst radikalisierende Schlachtszenarien. Aus einem vormals glatten Schlachtfeld, in dem sich Soldaten auf breiter Front linear vorwärts bewegten und so einen zentralen Willen exekutierten, wurde nun ein gekerbtes Schlachtfeld, das durch flexible Angriffsformationen gekennzeichnet ist.
Neuordnung des Kriegslandschaften
Der Raum wurde nicht mehr absolut, sondern relativ definiert und Sturmtruppen folgten einer situativen Taktik, die das Schlachtfeld als Netz von Feldern schnell wechselnder Prioritäten strukturierte.

Die neuen Medien von Telefon und Fernaufklärung ordneten die Kriegslandschaften nach Echtzeit, Dauerfeuer wurde nach einer todbringenden Wahrscheinlichkeitsrechnung abgegeben und Schlachtfelder wurden als präzis getaktete Zonen für rasch aufeinander folgende Feuerwalzen und Sturmangriffe strukturiert.

Durch diese radikale Dynamik des Maschinenkrieges, in der sich die Menschen als Automaten erlebten und die Waffen als lebendige Ungeheuer erfahren wurden, veränderten sich elementare Wahrnehmungsweisen des Schlachtfeldes.
Frontsoldaten a la Ernst Jünger
Wirkliches Kampfgeschehen und seine Repräsentation als Aufklärungsfoto im Kopf verschmolzen zu Phantasmen, die Ereignisse von Ursachen, Erlebnisse von Erzählungen und Nerven von Körpern abspalteten.

In diesem Chaos von Realität und Abstraktion konnte bestenfalls der von Ernst Jünger beschworene, neue Typus des Frontsoldaten bestehen: ein Soldat, dessen Auge hart wie ein Kameraobjektiv ist, dessen Reaktionen sich dem Rhythmus der Maschinen anpassen und dessen Aggression so scharf gerichtet ist wie ein Präzisionsgewehr. Das so installierte technologische Schlachtfeld am Isonzo hinterließ fast eine Million Tote und mehr als 1,5 Millionen verwundete und kriegsversehrte Soldaten.
Keimzellen des Faschismus
Aus dem Krieg brachten viele habsburgische und italienische Frontsoldaten nicht nur die militante Symbolsprache eines aus dem "Stahlbad" geborenen "neuen Menschen" mit, sondern bildeten im Verbund mit demobilisierten Offizieren auch die Keimzellen des Faschismus.

Stolz auf ihre Kriegsauszeichnungen und verbittert, weil das Vaterland nichts gegen ihre soziale Deklassierung m Zivilleben unternahm, wollten sie die im Karst erworbenen militanten Gewohnheiten nicht aufgeben. Sie verachteten das bürgerliche Streben nach Frieden und Wohlstand und stellten diesem ein kriegerisches Lebensideal entgegen.
Grundlage für neue Mörder-Ideologien
Es ist wohl kein Zufall, dass Karstkämpfer entscheidende Machtpositionen in den späteren faschistischen Regimes einnahmen: Der "Duce" Benito Mussolini war Soldat des am Monte Vrsic eingesetzten 11. Bersagliere-Infanterieregiments.

Der Austrofaschist Emil Fey war Major des bei Plava in schwere Kämpfe verwickelten 4. Infanterieregiments der Hoch- und Deutschmeister. Und "Wüstenfuchs" Erwin Rommel eroberte als Oberleutnant des deutschen Alpenkorps den Monte Matajur.

Aus den neuen Dingen des Krieges waren so schließlich menschenverachtende und mörderische Ideologien erwachsen.

[14.5.08]
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Über den Autor
Dr. habil. Lutz Musner ist stellvertretender Direktor und Programmleiter des IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zu den Entwicklungen innerhalb der Kulturwissenschaften und zu Stadtforschung. In seinem neuesten Forschungsprojekt beschäftigt er sich mit der Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs.
->   Lutz Musner, IFK
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->   Isonzo-Schlachten (Wikipedia)
->   Isonzo-Schlachtfelder (First World War.com)
Mehr von Lutz Musner in science.ORF.at:
->   Selbstinszenierung als Kultur: Wie führen wir uns auf?
 
 
 
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01.01.2010