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"Fleischfresser, Säufer und Räuber"
Europäische Indienreisende in der Frühen Neuzeit
 
  Wer sich an den Einfluss Europas auf Indien erinnert, wird vermutlich an die Geschichte des britischen Kolonialismus denken - eine Praxis von Ausbeutung und Unterdrückung samt Fünf-Uhr-Tee. Doch der zufriedenen Macht der Kolonialherren ging eine Geschichte voraus, die heute eher vergessen ist. Jahrhunderte lang befanden sich die Europäer in Indien in einer unterlegenen Position, konfrontiert mit zum Teil überlegenen Herrschaftssystemen und verachtet als "Fleischfresser und Alkoholsäufer".  
Dieses frühe Bild europäischer Missionare und Handelsleute, die im 17. und 18. Jahrhundert auf den Subkontinent kamen, zeichnet die Historikerin Antje Flüchter anlässlich eines Vortrags in Wien in einem Gastbeitrag.
Religion, Geld und Macht
Von Antje Flüchter

Im Jahr 1702 machte sich der Jesuit Pierre Mauduit zu einer ersten längeren Erkundungs- und Missionsreise nach Südindien auf. Sechs Monate lang hatte er sich auf seine Mission vorbereitet und die Sprachen und Sitten Südindiens gelernt.

Immer wieder suchte er auf seiner Reise Brahmanen oder islamische Religionsgelehrte auf, um mit ihnen über religiöse Themen zu diskutieren - eine beliebte Beschäftigung der Jesuiten, da die Patres in diesem Genre ihr theologisches Wissen und rhetorische Überlegenheit ausbreiten konnten.
Ablehnung und Verachtung für Europäer
Einmal allerdings, als Pierre Mauduit einen gelehrten Moslem argumentativ in die Enge treiben konnte, wechselte dieser die Ebene und rief aus: "ich [Mauduit - A.F.] sey ein Pranki oder Europäer, das ist, (wie die Indianer ausdeuten) ein liederlicher Schelm und leichtfertiger Lump; welches mich nicht allein in grosse Verachtung gebracht, sondern auch alle, die sich bequemenen, und mir ein Haus bauen wollten, von ihrem Vorhaben dergestalt abgeschröckt hat, daß ich aus Sorg, solcher Schandfleck möchte mir, dafern ich weiters gegen Westen reisen würde, nachziehen, mich nach Norden wenden mußte".

Mauduit bekam hier deutlich zu spüren, dass die Bewohner des indischen Subkontinents gegenüber Europäern nur Ablehnung und Verachtung empfanden. Enttarnt musste er seine Reiseroute ändern, denn als Europäer hatte er wenig Aussicht auf Missionserfolge, sondern würde vielmehr Verfolgungen ausgesetzt sein.
"Kolonial-Überlegenheit" ist ein spätes Gefühl
Die Geschichte des Jesuiten Mauduit zeigt, dass die Situation der Europäer in Indien lange nicht durch ein europäisches Gefühl der Überlegenheit geprägt war.

Das Verständnis des europäischen Imperialismus als Zivilisationsauftrag, als Last und Pflichterfüllung zur Zivilisierung "wilder Heiden" wie es oft mit Rudyard Kiplings Gedicht "The White Man's Burden" (1899) umschrieben wurde, entsprach nicht der Wirklichkeit des europäisch-indischen Kontaktes im 16. und 17. Jahrhundert.

1498 gelangte der Portugiese Vasco da Gama als erster Europäer auf dem Seeweg nach Indien und leitete damit eine Intensivierung der europäisch-indischen Kontakte ein. Der Weg von Vasco da Gama bis zum British Raj hat sich in der europäischen Erinnerung aber erstaunlich verkürzt - denn bis zur Übernahme weiter Teile des indischen Kontinents dauerte es immerhin mehr als 250 Jahre.
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Vortrag in Wien
Antje Flüchter hält am Montag, 19. Mai 2008, 18 Uhr c.t. den Vortrag "Eine Religion oder viele? Indien/Europa - Konfrontationen in der Frühen Neuzeit".
Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über die Veranstaltung (IFK)
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"Wir suchen Christen und Gewürze"
Die Hoffnung auf die reichen Märkte Asiens war ein Motor der Europäischen Expansion, sie hatte Christopher Columbus nach Amerika geführt. Von arabischen Kaufleuten gefragt, was er in Indien wolle, antwortete Vasco da Gama: "Wir suchen Christen und Gewürze!".

Und so sind es in den nächsten zweieinhalb Jahrhunderten auch vor allem Kaufleute aus den verschiedenen europäischen Ländern und Missionare, die sich nach Indien aufmachen.

Die Kaufleute wollten das amerikanische Gold in westindische Baumwollstoffe, chinesische Seide, Nelken, Zimt und Muskatnüsse investieren. Diese Waren wurden aber auch wieder zu einem Großteil auf asiatischen Absatzmärkten verkauft, nur ein Teil gelangt nach Europa.
Arrangement mit ansässigen Herrschaftssystemen
Um Zugang zu diesem inner-asiatischen Handel (country trade) zu erhalten, mussten sie sich mit indischen Herrschaftssystemen arrangieren, die ihnen oft wirtschaftlich und militärisch weit überlegen waren:

Etwa das islamische Mogulreich, das im 17. Jahrhundert mit seinem stehenden Heer und seiner ausdifferenzierten Verwaltung über staatliche Strukturen verfügte, die im zeitgenössischen Europa und erst recht im vom Dreißigjährigen Kriege gebeutelten Heiligen Römischen Reich deutscher Nation gerade erst geplant und aufgebaut wurden.
Fleischfresser, Säufer und Räuber
Die europäische Lebensweise war in Indien ein Unding. Viele Brahmanen und Mitglieder anderer religiöser Gruppen vertraten deutlich andere Moralvorstellungen und Konzepte von Reinheit und verweigerten deshalb den Umgang mit Europäern aufgrund von "Wollüsten/Muthwillen und ärgerlichem Leben", "Raub- und Mordthaten", aber eben auch der Genuss von Fleisch und Alkohol.

Wenn also die Europäer auf dem indischen Subkontinent aktiv werden wollten, mussten sie sich an die ihnen fremden und oft unverständlichen Spielregeln der "Hausherren" halten. Sie mussten erst einmal lernen, diese Regeln zu lesen und anzuwenden.
Jesuiten gaben sich für Brahmanen aus
Das galt sowohl für die Kaufleute, die Zugang zum inner-asiatischen Handel erhalten wollten, wie für Missionare, deren Mehrheit jenseits der portugiesischen Territorialherrschaft aktiv war. Gerade die Jesuiten merkten bald, dass ihre Missionsbemühungen vielfach daran scheiterten, dass das Christentum als europäische Religion wahrgenommen wurde.

Mit den Europäern wollten aber gerade die höheren sozialen Schichten, wie das Eingangsbeispiel zeigte, keinen näheren Umgang haben.

Was machten also die Jesuiten? Sie (ver)kleideten sich wie indische Sannyasins und gaben vor, Brahmanen aus dem Norden zu sein. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde diese relativ erfolgreiche Missionspraxis vom Papst verboten, womit sich die Zahl der Neubekehrten sofort drastisch senkte.
Therapie und Strategien der Europäer
Die Erfahrung der Unterlegenheit ist nie angenehm und muss verarbeitet werden. Damals reagierten die Europäer auf zwei Weisen: strategisch und therapeutisch. 'Strategisch', weil Profitaussicht und Missionserfolg ihre Ziele waren - so wurde versucht, die Konventionen in Indien zu verstehen und erforschen.

In den Reiseberichten des 17. Jahrhunderts finden sich entsprechend immer wieder Versuche, die religiöse Vielfalt in einer Typologie zu fassen, wobei ethnische, geographische und religiöse Kriterien wild gemischt werden.

Diese Versuche zeigen, dass es 'den Inder', 'den Orientalen', oder 'den Hinduisten' in dieser Wahrnehmung noch nicht gab, wenn auch die Bausteine für diese bis heute bekannte Konstruktion sich hier auszubilden beginnen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein ging es dabei nicht nur um die Ordnung der 'anderen' Vielfalt, sondern auch um das Lesen einer Gesellschaft, damit man sich selber in eben dieser verorten und einordnen konnte.
Überlegenheit der eigenen Religion
Ihre unterlegene Position verunsicherte viele Europäer aber auch und musste irgendwie kompensiert werden. Eine Therapie war die religiöse Differenz hochzuhalten und aus der Gewissheit, die eigene Religion sei die einzig wahre und heilsvermittelnde, Selbstbewusstsein zu ziehen.

Fühlte man sich militärisch überlegen, wie auf einigen der bald besetzten südasiatischen Gewürzinseln, konnte man die Andacht der dortigen, andersgläubigen Einwohner rühmen und den heimischen Christen als Vorbild präsentieren.

Gegenüber den überlegenen Religionsgruppen in Indien strich man dagegen deren "wahnsinnigen Aberglauben", ihre "aberglaubische Thorheiten" oder ihre sexuellen Ausschweifungen heraus.
Imperialismus brachte Vorgeschichte zum Vergessen
In den Vorworten verschiedener Reiseberichte verwandelt sich dieses Gegenbild dann oft wieder in ein herablassendes Mitleid, zu einem Mitleid mit den Menschen, die in der "Finsternis der Unwissenheit/und Tyranney des Aberglaubens" verharren. Ein Mitleid, das auf diese Art aber fast nur vom europäischen Lehnstuhl aus formuliert werden konnte.

Mitte des 18. Jahrhunderts änderte sich die Situation: Als Zäsur gilt der Sieg Robert Clives' über den Nawab von Bengalen im Jahr 1757. Im Anschluss übernahm die britische East India Company immer mehr Herrschaftsfunktion von den bisherigen indischen Herrschaftsträgern.

Der Kolonialismus und Imperialismus war in Indien angekommen und konstruierte das bis heute wirkmächtige Bild eines statischen und unterlegenen Indiens - und die 250 Jahre zwischen Vasco da Gama und Robert Clive waren vergessen.

[16.5.08]
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Über die Autorin
Antje Flüchter ist derzeit Research Fellow am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwisssenschaften in Wien. Sie studierte Mittlere und Neuere Geschichte. Seit 1997 ist sie Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Frühe Neuzeit in Münster. Publikationen zur Identitätsbildung in der Vormoderne, frühen Formen der Globalisierung und Religionsgeschichte.
->   Antje Flüchter, Uni Münster
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01.01.2010