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Sprache kreiert soziale Realität  
  Wie wird die Gesellschaft und ihre soziale Realität konstruiert? Mittels Sprache. Das zumindest postuliert der amerikanische Sprachphilosoph John R. Searle. Ende Mai hat der Vertreter der "Sprechakttheorie" bei einem Vortrag in Wien seine neuesten Erkenntnissen über die Rolle der Sprache bei der Etablierung menschlicher Gemeinschaften und der Konstruktion institutioneller Realitäten präsentiert. Im Gespräch mit science.ORF.at skizziert der Sprachphilosoph, wie Sprechakte soziale Institutionen kreieren, welche Macht die Sprache hat und warum Atomkraft plötzlich wieder politisch korrekt werden könnte.  
science.ORF.at: In Ihrem Buch "The Construction of Social Reality" widmen Sie sich den fundamentalen Konzepten sozialer Ontologie und den Prinzipien, nach denen gesellschaftliche und soziale Wirklichkeiten konstruiert sind. Können Sie das etwas genauer erläutern?

Searle: Es gibt ein riesiges Paradoxon in der Gesellschaft. Die sozialen Entitäten haben eine objektive Existenz. Das heißt, das Stück Papier in meiner Geldtasche ist echtes Geld, Sie sind österreichische Staatsbürgerin und so weiter. Das alles sind Fakten. Aber sie sind bloß deshalb Fakten, weil wir an sie glauben. Es ist nur eine Universität, weil wir sie dafür halten. Das sind Antworten, nur deshalb, weil wir sie als diese akzeptieren. Wie funktioniert das? Was ist die logische Struktur dessen? Diesen Fragen widme ich mich.
Gibt es denn eine logische Struktur hinter diesem Konzept sozialer Ontologie?

Ja. So wie es in der Naturwissenschaft immer ein einziges, gemeinsames Prinzip gibt - in der Chemie ist es beispielsweise die chemische Verbindung - existiert auch ein einziges, gemeinsames Prinzip der menschlichen Gesellschaft.
Wie lautet dieses universelle Prinzip?

Das ist kein Geheimnis. Gesellschaft wird von Sprache, von Sprechakten kreiert. Ich bezeichne diese speziellen Sprechakte als Deklarationen: Meiner Auffassung nach ist die menschliche gesellschaftliche Wirklichkeit einzigartig von Institutionen geprägt. Damit meine ich Objekte und Personen mit Funktionen, die sich nicht aus ihrer Physis, sondern auch der kollektiven Wahrnehmung ihres Status durch die Mitglieder einer Gesellschaft ableiten. Denken Sie an Fußballspiele, politische Wahlen oder Hochzeiten.
Was ist der Motor hinter dieser Konstruktion der Realität durch Sprache?

Searle: Wenn man Sprache hat, hat man Recht auf Besitz, Familie etc. Aber hinter all dem steht die Macht. Die Konstruktion von Gesellschaft ist eine riesige Blase, die uns zu allem fähig macht. Sie gibt uns enorme Macht. Aber ehrlich gesagt gibt es keine einzelne Antwort auf diese Frage, warum wir es tun. Die Überschrift über all dem ist, dass diese Deklarationen die menschlichen Möglichkeiten steigern, dass Institutionen die Basis dessen sind. Gesellschaft ohne diese grundlegenden Institutionen ist schwer vorstellbar.
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Schwerpunkt: "Sprechen Sie Wissenschaft?"
"Sprechen Sie Wissenschaft? Wissenschaftssprache im öffentlichen Dialog" heißt eine Initiative von BMWF und Ö1 Wissenschaft. Forscher und Forscherinnen verschiedener Disziplinen reflektieren dabei in science.ORF.at in Gastbeiträgen und Interviews über den wissenschaftlichen Sprachgebrauch und den Bedarf an Wissenschaftskommunikation.
->   Initiative
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Wie sieht es mit der Konstruktion der Wirklichkeit in der Scientific Community aus? Ändert die Sprache die Wissenschaft?

Da muss man aufpassen. Naturwissenschaften kreieren nicht die Realität. Wissenschaftler entdecken. Sie entdecken Fakten wie tektonische Platten und, dass sie die Oberfläche der Erde überziehen und sich dort bewegen etc. Aber das sind alles Entdeckungen, die unabhängig von der Sprache existieren. Wenn man Wissenschaft als soziales Phänomen versteht, gibt es natürlich menschlich konstruierte Strukturen - wie Forschungslabors, Autoritätspersonen oder Koordinationen innerhalb der Scientific Community. Aber die Realität, die Wissenschaft beschreibt, ist keine soziale Konstruktion.
Also ist die Scientific Community eine soziale Realität?

Ja. Die Scientific Community selbst konstruiert ihre soziale Realität über Institutionen wie die Universität, über Hierarchien, über die Verteilung von Forschungsgeldern etc. Das ist eine soziale Konstruktion wie jede andere.
Wissenschaftler kommen aber immer wieder in die Situation, nicht nur über Ergebnisse, sondern auch über deren Konsequenzen zu sprechen - beispielsweise in der Klimaforschung, wo von den Wissenschaftlern konkrete Lösungsvorschläge erwartet werden.

Das ist eine politische Dimension, der politische Teil hinter der Forschung. Und die Wissenschaftler sind schon lange nicht mehr in der Kompetenz, diese politische Dimension ihrer Arbeit zu vermitteln. Sie sagen uns die wissenschaftlichen Resultate, die Fakten. Beispielsweise, dass Kohlendioxidemissionen globale Erwärmung verursachen, dass Rauchen Krebs verursachen kann, etc. Alles andere ist dann die politische Dimension dahinter.
Aber Wissenschaftler müssen immer wieder über diese politische Dimension zu sprechen.

Ja. All das, was derzeit so auf der Welt passiert, ist politisch belastet beziehungsweise eingefärbt. Und immer, wenn es um Politik geht, geht es um Symbolismus. Ein Beispiel: Lange Zeit gab es rund um die Atomkraft einen negativen Symbolismus. "Atomkraft, nein danke!" hat es auf all diesen Klebern geheißen. Es war politisch korrekt, gegen Atomkraft zu sein. Jetzt stellt sich wissenschaftlich heraus, dass Atomkraft weitaus sauberer ist als Kohlekraftwerke oder Ölverbrennungsanlagen. Vielleicht wird Atomkraft jetzt wieder politisch korrekt.
Eine Wendung der Einstellung um 180 Grad also...

Zuerst war es die Angst vor atomarer Zerstörung, atomarer Verstrahlung, was die Atomkraft so schrecklich gemacht hat. Vor allem nach Tschernobyl war Atomkraft negativ belegt, weil man davon ausgegangen ist das radioaktive Strahlung böse ist und wir alle daran sterben werden. Nun stellt sich heraus, dass wir alle aber eher an der Zerstörung der Umwelt sterben werden und dass diese Atomkraftwerke viel besser für die Umwelt sind als Kohlekraftwerke und Ölverbrennungsanlagen.
Was verändert die Sicht der Dinge. Der Symbolismus? Die Sprache?

In diesem Fall ist es die Änderung der Einstellung, die starke Symbolik dahinter. Menschen fragen nicht, welche Richtung ist die bessere, sondern, welche Person bin ich. Bin ich eine gute Person, die gegen Atomkraft ist? Oder bin ich eine schlechte Person, die Kohlenstoffemissionen unterstützt? Das ist wirklich eine schwierige Sache der menschlichen Existenz. Keine menschliche Handlung ist ohne Symbole.
Das ist dann eine totale Trendwende gegenüber der Einstellung vor 25 Jahren?

Richtig. Es ist eine komplette Umkehr. Es mag tatsächlich sein, dass Atomkraft noch politisch korrekt ist. Das wäre sehr lustig, wenn wir plötzlich auf die Idee kommen, dass Atomkraft viel besser für die Umwelt ist.

Eva-Maria Gruber, science.ORF.at, 3.6.08
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John R. Searle
John R. Searle, Slusser Professor of Philosophy, University of California, Berkeley, ist weltweit bekannt für seine Beiträge zur Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie und Kognitionswissenschaft sowie zum sozialen Konstruktivismus. Er ist einer der wichtigsten Vertreter der Sprechakttheorie. Überdies sind sein Chinese Room-Argument und seine Abhandlung zum Thema Künstliche Intelligenz breit rezipiert und diskutiert worden. Der US-Amerikaner hat 17 Bücher verfasst, u.a. "Speech Acts", "Intentionality" und "The Construction of Social Reality".
->   John R. Searle
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->   Alle Beiträge der Serie "Sprechen Sie Wissenschaft"
 
 
 
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01.01.2010